02 Mein Licht – Spot 1

Selbstschutz

Jetzt mache ich mich bereit, meine dunklen Ecken zu beleuchten. Was habe ich als Kind gelernt, weshalb ich heute in manchen Situationen den Mut verliere? Wo habe ich diese Glaubenssätze abgespeichert?

Das kann ich nicht.

Das darf ich nicht.

Das bin ich nicht.

Das verdiene ich nicht.

Da gehöre ich nicht dazu.

Ich bin aufgewachsen in einer Kultur des Mangels, des „Nicht-gut-genug-seins“. Von Anfang an in der Familie sowie später in der Schule und im Beruf geht es darum, meine Fehler zu zählen. Schon als kleines Kind werde ich für jedes Fehlverhalten bestraft. Zu laut, zu unruhig, nicht lange genug geschlafen, nicht schön gegessen, gepatzt, etwas kaputt gemacht, versucht meinen Willen durchzusetzen, nicht das Richtige gesagt usw. Es folgt: Strafe.

Diese Strafe kann viele Gesichter haben: Schläge, angedrohte Schläge, Schimpfen, Liebesentzug, Bloßstellen, Wegnehmen persönlicher Dinge, Psychoterror, Ignorieren, links Liegenlassen, Einsperren, Missbrauch, Alleinelassen u. v. m. Dadurch wurde mir eingebläut, dass ich fehlerhaft bin. Ich bin nicht gut genug. Ich habe nicht grundsätzlich, einfach nur weil ich da bin, ein Recht darauf, geliebt zu werden. Ich muss mir Liebe verdienen – durch richtiges Verhalten.

In der Schule werden meine Fehler und Schwächen dann systematisch protokolliert. In unzähligen Tests wird bewiesen, dass ich fehlerhaft bin. Ich bin einer Armee von meistens schlecht ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern ausgesetzt, die mir eintrichtern: Das kapierst du nie. Du bist nicht klug genug. Du machst immer dieselben Fehler. Du kannst nicht ruhig sitzen. Du kannst nicht aufpassen. Du wirst es nie zu etwas bringen.

Und so geht es im Erwachsenenleben weiter. Nicht cool genug, nicht die richtigen Freunde und Freundinnen, nicht genug verdient, nicht erfolgreich genug, nicht sportlich genug, Ziel nicht erreicht, zu spät gekommen, nicht dankbar genug, zu dick, zu dünn, nicht lustig genug …

Das hält doch kein Mensch aus! Wie überlebe ich das bloß?

Ich habe Schutzmechanismen aufgebaut, um mich gegen diesen Terror zu wehren. So wie ich mich vor körperlichen Verletzungen schütze, wenn ich bei Spiel, Sport und Freizeit etwas wage. Dort verwende ich Helm, Protektoren, Sicherheitsschuhe, Sicherheitsgurt, Airbag usw. Gegen die Verletzungen meiner Seele habe ich mich mit einem Panzer, einem Schutzschild und einer Maske geschützt.

Dahinter verstecke ich mich, damit mich niemand angreifen kann. Mein inneres Kind weiß noch gut, wie es sich anfühlt, angegriffen zu werden mit Schlägen, Beschimpfungen und all dem Terror. Es will sich mit allen Mitteln davor schützen, will diesen Schmerz nie wieder erfahren.

Bin ich traumatisiert? Das klingt wie eine schwerwiegende Sache. Wir alle tragen kleinere oder größere Traumata aus unserer Kindheit in uns. Die eine belasten sie sehr, die andere kaum. Traumata können entstehen, wenn ich als Kind körperliche oder psychische Gewalt erfahren habe und damit alleine war. Wenn niemand für mich da war, mir Schutz bot, mich gehalten, getröstet oder mir geholfen hat.

Das ist eine massive Überforderung für mich als Kind, die sich in meinem System festsetzt. Später können daraus Ängste, Depressionen, Bindungsschwierigkeiten oder auch körperliche Beschwerden entstehen. Und niemand wird wissen, warum, bis ich den Mut finde, in meinen Keller zu steigen und die Taschenlampe anzuknipsen.

Du bist nicht musikalisch. Du bist nicht sportlich. Du bist keine große Denkerin. Du hast zwei linke Hände. Du bringst keinen geraden Satz heraus. Du bist schüchtern. Du kannst nicht tanzen usw. Als Kind brauchte ich noch eine andere Person, um meinen Selbstwert herabsetzen zu lassen. Diese Glaubenssätze habe ich jetzt so gut verinnerlicht, dass ich mir heute ganz ohne fremde Hilfe den Mut nehmen kann. Mein Ego ist sofort zur Stelle und erklärt mir ganz genau, wo mein Platz in dieser Welt ist.

Die Schwierigkeit dabei ist, dass es leider nicht möglich ist, sich nur vor den Verletzungen zu schützen. Wenn ich Angst, Scham, Kummer, Traurigkeit und Enttäuschung unterdrücke, würge ich gleichzeitig auch Liebe, Zugehörigkeit, Freude, Mut, Empathie, Kreativität, Hoffnung, Mitgefühl, Verantwortungsbewusstsein und Authentizität (Natürlichkeit) ab.

Der Grad, zu dem ich mich vor Verletzungen schützen will, ist ein Maß für meine Unsicherheit, meine Unverbundenheit mit anderen und meine Angst. Ich bin so krank wie meine Geheimnisse. Also fange ich an, sie zu beleuchten. Ich arbeite mit meinem TDE (Tagebuch der Enttäuschungen). Und wenn ich dieses Glück habe, rede ich mit Menschen, denen ich sicher vertrauen kann, über meine dunklen Seiten.

„Dem richtigen Menschen kann ich nichts Falsches sagen.“

Niemand wird gerne bloßgestellt oder beschämt. Auch ich nicht. Entweder verkrieche ich mich, oder ich räche mich. Ich versuche, mich so wenig wie möglich angreifbar zu machen. Entweder ich versuche, mich so unsichtbar wie möglich zu verhalten, oder ich möchte alles perfekt machen, damit niemand etwas an mir auszusetzen hat.

Ich kann auch lauthals durchs Leben poltern und die ganze Zeit lärmen und über alles und jeden herziehen, um von meinen eigenen Schwächen und dunklen Seiten abzulenken. Ich kann alle um mich herum klein und schlecht machen, damit niemand auf die Idee kommt, dasselbe mit mir zu tun.

Die anderen können mich nicht sehen, hinter meinen selbst aufgebauten Mauern. Sie wissen nicht, wer ich wirklich bin. Dadurch können sie mich aber auch nicht im positiven Sinne angreifen, berühren und sich mit mir tiefer verbinden. Mein Leben plätschert in der Pflichterfüllung zwischen Langeweile und Spaß hin und her. Am Ende werden es jedoch nur die großen Emotionen sein, an die ich mich erinnere – den Schmerz und die Liebe. Aber nur, wenn ich sie zulasse.

Ich werde mich nicht daran erinnern, zu Hause vor dem Fernseher geblieben zu sein und Tee getrunken zu haben. Die wichtigen Geschichten beginnen mit Sätzen wie: „Was soll’s, ich springe da jetzt runter“, „Augen zu und Karte durch“, „Halt mal mein Glas, ich hab da eine Idee“ und nicht mit „Da hatte ich leider keine Zeit“ oder „War das wieder ein geiler Tag auf meinem Bürostuhl“.

Wir lieben es, anderen in der Arena zuzuschauen. Wir feiern unsere Helden, lachen die Verlierer aus und schwenken dabei die Fahnen unserer Länder. Aber wir haben Angst, selbst in der Arena zu stehen. Wir könnten uns blamieren. Wir könnten verletzt werden. Wie wäre es, wenn ich mir Schritt für Schritt den Mut gebe, mitzumachen und mich zu zeigen? Wäre es nicht befriedigender, sich mit eigenen Ideen zu schmücken, anstatt mit Nationalfarben?

Während meines Erwachsenwerdens habe ich mir meine ganz persönliche Mischung aus Schutzschilden und Masken zugelegt. Die Gebräuchlichsten schaue ich mir jetzt aus der Nähe an.

Panzer A: Ich traue meinem Glück und meiner Freude nicht

Je höher ich steige, desto tiefer kann ich fallen. Je mehr ich mich freue, euphorisch und glücklich bin, desto schmerzhafter kann das Schicksal zuschlagen. Wenn ich am Bett meiner schlafenden Kinder stehe, mir bei dem Anblick ganz warm ums Herz wird und mich eine Glückseligkeit durchdringen möchte, kommen gleich die Schreckensbilder: Was ist, wenn sie krank werden, einen Unfall haben oder misshandelt werden?

Ich traue meinem Glück und dem Frieden nicht. Wenn ich befördert werde, ist sicher ein Haken dabei. Wenn ich schwanger bin, könnte ich das Kind verlieren. Wenn es gerade richtig gut läuft, weiß ich jetzt schon, dass ich gleich wieder eine auf den Deckel bekomme. Gehen mir die eigenen Bilder im Kopf aus, liefern mir die Medien genügend Nachschub: Krieg, Terror, Krankheit, Verlust, Katastrophen, Kriminalität.

Bleibe ich im Mangel, in der Angst, im Nein-Sagen, kann mich das Schicksal nicht so hart treffen. Außerdem frage ich mich: Wer bin ich denn schon, dass ich mich wirklich freuen darf, wo es doch auf der Welt viel Elend gibt und Kinder verhungern?

Gibt es zu diesem Denken eine Alternative? Wie oft hatte ich denn mit meinen Schreckensvisionen Recht? Wie viele von hundert ausgemalten Horrorszenarien sind wirklich eingetreten? Ich weiß, diese Angst fühlt sich real an. Mein Ego lässt nicht locker und hält daran fest, dass ich in Gefahr bin. Und es ist vollkommen in Ordnung, dass ich diese Angst fühle.

Ganz wichtig ist es an dieser Stelle, den Unterschied zwischen Angst und Furcht zu betonen. Diese beiden soll ich nicht verwechseln. Furcht entsteht durch eine Gefahr von außen. Wenn ich an einem Abgrund stehe, fürchte ich mich davor abzustürzen. Ich gehe einen Schritt zurück. Wenn die Wellen zu hoch sind, fürchte ich mich zu ertrinken. Ich gehe nicht ins Wasser. Gefährlichen Tieren gehe ich aus dem Weg, weil ich fürchte, attackiert zu werden. Das ist richtig und gesund.

Angst hingegen kommt von innen. Angst und Sorgen mache ich mir selbst. Mein Ego ist wie ein Radar auf einem Boot. Es ist mein Sicherheitschef. Dieser Chef hat die Aufgabe, mich zu schützen und dafür zu sorgen, dass ich überlebe. Er ist ständig bei der Arbeit und berechnet alle möglichen Gefahren, auf die ich vielleicht zusteuern könnte.

Ich bin aber nicht meine Gedanken. Ich bin nicht mein Ego. Ich bin nicht die Stimme in meinem Kopf. Es ist mein Sicherheitschef, der mir wichtige Informationen liefert. Ich bin die Kapitänin. Ich kann entscheiden, ob ich die Einschätzung meines Sicherheitschefs teile und ebenfalls eine Bedrohung erkenne, oder ob ich seine Befürchtungen in den Wind schlage und entscheide, dass ich in Sicherheit bin.

Es ist wichtig, dass ich lerne, ein gutes Verhältnis mit meinem Sicherheitschef zu haben. Er arbeitet richtig hart – fast 24/7. Seine Arbeit ist für mich von äußerst hohem Wert. Ich erlaube ihm aber auch, Pausen zu machen. Wenn das Boot sicher vor Anker oder im Hafen liegt, ist sein Radar ausgeschaltet. Ich bin in Sicherheit. Es ist gerade alles in Ordnung.

Das Zauberwort, um das Radar und damit die sorgenvollen und angsteinflößenden Gedanken abzustellen, lautet:

„Dankbarkeit“.

Es ist sehr schwierig, gleichzeitig Angst zu haben und dankbar zu sein. Das kann ich jetzt üben und Schritt für Schritt die aktive Praxis der Dankbarkeit in mein Leben integrieren.

Will ein negativer Gedanke mir Sorgen oder Angst machen, bleibe ich kurz stehen. Ich mache mir bewusst, was hier gerade passiert. Mein Ego spricht eine Warnung aus. Ich nehme sie zur Kenntnis und bewerte sie. Besteht tatsächlich eine reale Gefahr? Oder kann ich eigentlich dankbar dafür sein, dass jetzt gerade in diesem Moment alles in Ordnung ist? Will ich mir Sorgen machen und mich mit Angst erfüllen? Nein?

Worüber kann ich mich gerade freuen? Was ist gerade schön? Ich nehme es an. Ich bin dankbar, dass ich gerade durch diese schöne Landschaft gehen kann. Ich spüre die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Ich muss gerade nichts anderes machen.

Ich fange an, auch für die kleinen und scheinbar unbedeutenden Dinge dankbar zu sein. Mir wird bewusst, wie oft mein Ego mir Angst macht und mir Grund zur Sorge gibt. Und ja, ich habe Angst, wenn ich die Freude zulasse. Ich steige nach oben und ein Sturz würde zu Verletzungen führen. Auf diesem Weg nach oben lerne ich Tritt für Tritt, dass es sich lohnt, das Risiko einzugehen. Ich gebe mich nicht mehr der Verzweiflung hin. Sie macht mich klein und schwach.

Ich lasse zu, dass Freude mich durchdringen darf. Ich bin es mir wert, dass mir warm ums Herz wird und ich diesen Augenblick sorgenfrei genießen kann. In diesem Moment ist gerade alles in Ordnung. Ich muss jetzt nichts tun. Es gibt nichts zu erreichen. Ich muss jetzt keinem Gedanken folgen, der mir diesen Augenblick zerstören will.

Ich mache die Erfahrung, dass ich stärker werde, je öfter ich das Risiko eingehe, verletzt werden zu können. Starke Menschen können mit ihren Ängsten umgehen. Menschen, die mit ihren Ängsten umgehen können, machen nichts kaputt. Mein Ego will mich vor Schmerz bewahren. Mein Herz weiß es besser und klettert mutig nach oben.

„Wenn ich mir das Leid der Welt zu Herzen nehme, hilft das der Welt nicht. Kreative Menschen waren nie sentimental – sie akzeptieren Schöpfung und Zerstörung. Alles, was ich tun kann, ist, mein schöpferisches Wirken in die Waagschale der Welt zu werfen.“

Wird neben mir ein Mensch vom Schicksal gebeutelt, kann ich ihm Mitgefühl entgegen bringen, aber niemals mit ihm mitleiden. Hat jemand gerade ein Kind verloren, kann ich daran denken, dass auch meinem Kind etwas Schlimmes passieren könnte. Oder ich übe mich darin, mich über mein gesundes Kind zu freuen. Immer wenn ich ehre, was ich habe, ehre ich auch das, was jemand anderer verloren hat.

Panzer B: Ich bin Perfektionistin

Noch nie hat jemand zu mir gesagt, wie glücklich und zufrieden er sich dabei fühlt, immer alles perfekt hinbekommen zu wollen. Was ist eigentlich Perfektionismus und was nicht?

Perfektionismus ist nicht identisch mit dem Bestreben, exzellente Arbeit zu leisten. Natürlich darf ich gut sein und Dinge richtig machen. Perfektionismus dagegen ist eine Abwehrstrategie. Ich glaube, wenn ich nur alles perfekt mache und perfekt aussehe, dann darf ich dazugehören und kann dem Schmerz von Kritik, Beurteilung und Blamage entrinnen. In Wahrheit hält mich dieser Panzer davon ab, wahrgenommen zu werden.

Das Gegenteil von „Dazugehören“ ist „Dazupassen“. Ich wäge die Situationen ab und bewerte, was von mir wahrscheinlich erwartet wird und gehört werden will. Ich ignoriere meine Werte und meine Bedürfnisse, verbiege mich und passe mich an.

Perfektionismus ist keine Selbstverbesserung. Es ist der Versuch, Bestätigung zu erhalten. Ich bin nur so gut, wie das, was ich zustande bringe. Bitte lass mich nur Vollkommenes schaffen. Perfektionismus ist nach außen gerichtet. Was werden die anderen von mir denken? Perfektionismus bedeutet, sich selbst nicht wahrzunehmen und sich für andere zu verbiegen. Ein gesundes Bestreben ist nach innen gerichtet. Wie kann ich mich verbessern? Was sind meine Werte? Was ist mir wichtig?

Perfektionismus beeinträchtigt in Wahrheit meine Leistung. Die Forschung belegt, dass er mit Depression, Ängstlichkeit und Sucht zusammenhängt. Die Angst zu versagen, Fehler zu machen oder den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen, hält uns davon ab, unsere Kreativität zu entfalten und unserer Intuition zu folgen. Ich will meine Schwachstellen verbergen, meine Wirkung nach außen kontrollieren und um die Anerkennung der anderen kämpfen.

Letztlich nährt der Perfektionismus genau das, was ich mit ihm zu verhindern versuche. Es gibt keine Perfektion und damit ist sie ein unerreichbares Ziel. Jedes Mal, wenn mir ein Fehler vorgeworfen wird, glaube ich, dass es an meiner mangelnden Leistung liegt und will es noch besser machen. Dabei wachsen nur meine Unsicherheit, mein mangelnder Selbstwert, meine Komplexe und meine Angst.

Jetzt mache ich mich auf die Reise von meiner inneren Haltung: Von „Was werden die Leute von mir denken?“ hin zu der Überzeugung „Ich mache das richtig gut“. Der Zauberspruch, der mich auf diesem Weg begleitet lautet:

„Ich behandle mich so wie jemanden, den ich wirklich liebe.“

Das bedeutet:

  • Ich bin freundlich und verständnisvoll mit mir.
  • Ich verbinde mich mit anderen, anstatt mich abzukapseln.
  • Ich nehme meine Erfahrungen achtsam und als gleichwertig wahr. Ich bewerte sie nicht und vergleiche mich nicht mit anderen.
  • Ich nehme meine Geschichte an. Sie hat mich zu dem gemacht, der ich bin.

Werde ich kritisiert, mache ich mich nicht mehr selbst schlecht. Ich bin nicht schlecht. Ich bin keine Idiotin. Ich bin keine Versagerin. Ich setze mich danach in Ruhe an mein TDE und schreibe auf, was passiert ist. Wie lautet die Kritik? Habe ich tatsächlich etwas nicht gut gemacht? Von wem kommt die Kritik? Ist die Person in der Position, mich zu kritisieren, oder will sie sich nur auf meine Kosten wichtigmachen? Übernehme ich die Verantwortung? Muss und kann ich etwas wiedergutmachen?

Ich lerne, wo Exzellenz gefragt ist und wo „quick & dirty“ das Rennen machen darf. Ein zwanzigminütiger Spaziergang, den ich tatsächlich mache, ist besser als ein Drei-Kilometer-Lauf, den ich unterlasse. Die Party mit Catering-Essen vom Chinesen ist besser als das Galadinner, das ich nie veranstalten werde. Ich achte darauf, wie ich die Dinge angehe.

Für wen will ich das gerade perfekt machen? Für mich, weil ich Spaß daran habe und es mich glücklich macht? Oder erwarte ich mir Lob und Anerkennung von jemand anderem?

Vielleicht beginne ich auch zu malen oder sonst etwas nicht unmittelbar Notwendiges zu schaffen. Kunst ist vollkommen unvollkommen. Mein Panzer bekommt Risse und mein Licht wird sichtbar. Ich werde sichtbar und damit angreifbar. Menschen können mich begreifen, berühren und mit mir in Verbindung treten.

Panzer C: Ich betäube mich im Rausch

Es gibt unzählige Schmerzmittel gegen die Schmerzen, die meine Gefühle auslösen. Alkohol, Rauchen, Medikamente, Zucker, Kaffee und andere Drogen, Essen, Medienkonsum, Wetten, Sex, Glücksspiel usw. Aber auch „mich ständig beschäftigen“ (= ein Busyholic sein) ist eine Form der Betäubung. Ich glaube, dass mich die Wahrheit meines Lebens nicht einholen kann, solange ich nur keine Zeit dafür habe.

Es ist ein Teufelskreis, in den ich geraten kann. Ich will den Schmerz betäuben, nicht gut genug zu sein. Und weil ich nicht gut genug bin, darf ich nicht dazugehören und dafür schäme ich mich. Ich schäme mich dafür, überfordert zu sein und nicht alles im Griff zu haben. Ich bin also nicht so perfekt, wie ich glaube, dass es die anderen von mir erwarten. Diese Scham treibt mich immer weiter in die seelische Isolation, ohne Hoffnung, aus eigener Kraft wieder herauszukommen.

Ich schaffe es nicht, Grenzen zu setzen. Ich versuche, der Überforderung Herr zu werden, indem ich mich noch besser organisiere, mit Listen und Apps, noch mehr arbeite und jede Minute nutze, um meine Aufgaben abzuarbeiten. Dafür haue ich danach über die Stränge, denn auch Spaß muss sein. Ich suche nach Tipps, wie ich weiterhin „so leben kann“, anstatt nach Hilfestellungen, wie ich „aufhören könnte, so zu leben“.

Die sogenannten zivilisierten Gesellschaften sind die am höchsten verschuldeten, fettleibigsten, süchtigsten und am stärksten mit Arzneimitteln vollgepumpten Menschen, die es je gegeben hat. Könnte es sein, dass wir uns in manchen Dingen vielleicht irren?

Ich kann mir nicht aussuchen, was ich betäube. Ersäufe ich meine Schattenseiten, ersäufe ich auch mein Licht. Der Zauberspruch, um diesem Teufelskreis zu entrinnen, lautet:

„Ich lasse es gut sein“.

Das bedeutet nicht nur, dass ich aufhöre. Es bedeutet auch, dass es gut genug ist. Ich bin gut genug. Ich mache das gut. Mein Selbstwert – was ich mir selbst wert bin – und der Grad der Betäubung hängen unmittelbar miteinander zusammen. Je mehr ich trinke, rauche oder arbeite, desto weniger bin ich mir selbst wert.

Ich will die Überzeugung entwickeln, dass ich gut genug bin. Erst dann kann ich es auch mal gut sein lassen. Aber genau diese Überzeugung löst bei mir als Frau Unbehagen aus. Wenn ich Grenzen setze, um mich vor Überforderung zu schützen, meldet sich sogleich mein Ego:

„Was werden denn die anderen von dir denken? Sei vorsichtig mit dem Neinsagen. Du wirst die Leute total enttäuschen. Stoß sie nicht vor den Kopf. Sei lieb. Mach jeden glücklich.“

Mein Ego wittert Gefahr. Ich werde verwundbar, wenn ich Grenzen setze. Mein Ego will mich beschützen. Es ist jetzt entscheidend, dass ich verstehe, dass genau dieses angepasste Verhalten und das Ignorieren meiner Grenzen mir die Aufnahme in die Gruppe versperrt. Hinter meinem Panzer bin ich zwar geschützt, aber es kann mich auch niemand erkennen und berühren.

Wir Menschen sind Beziehungswesen. Ich will mich mit anderen verbinden. Also löse ich meinen Panzer. Ich lasse mein Licht zum Vorschein kommen. Ich zeige mich. Ich steige in die Arena. So gut bin ich. Nicht besser und nicht schlechter. Ich habe etwas beizutragen und dafür bin ich dankbar. Ich mag mich. Ich lasse es zu, berührt zu werden. Und ich berühre andere. Ich bin verbunden. Ich begegne den Menschen mit Würde und Respekt.

„Verwundbarkeit zulassen heißt, sich nackt auf die Bühne zu stellen und auf Applaus zu hoffen, statt auf Gelächter.“

Panzer D: Meine Welt besteht aus Tätern und Opfern

Die Welt in Gut und Böse zu teilen, ist auch eine Form des Selbstschutzes. Ich gehöre zu den Guten und habe somit auch das Recht zu entscheiden, was Gut und was Böse ist. Das Böse darf bekämpft werden – mit aller Gewalt. Berufsbedingt kann dieses Weltbild noch verstärkt werden, wenn ich beim Militär, der Polizei, im Justizwesen oder im Staatsdienst arbeite.

Eine muss gewinnen – eine muss verlieren. Es geht um Macht und Ohnmacht und um Unterdrückung bis zur Aufgabe – zur Selbstaufgabe. In dieser Welt aus Schwarz und Weiß hat Verwundbarkeit scheinbar keinen Platz. Ich darf keine Schwäche zeigen. Auch im Sport wird dieses Weltbild gelebt.

Siegen, Gewinnen und Machtausüben mögen als Erfolge gewertet werden. In bestimmten Situationen mag das stimmen. Ich kann eine Schlacht oder ein Rennen gewinnen, aber sobald das vorüber ist, reicht das bloße Gewinnen nicht für mein erfülltes Dasein aus.

Aus meiner Täter-Opfer-Sicht nehme ich Schicksalsschläge als Beweis dafür, dass ich noch mehr kämpfen muss. Scheidung, Absonderung, Einsamkeit, Sucht, depressive Gedanken und Erschöpfung prägen zunehmend mein Weltbild.

In den oben genannten Berufen kann ich nicht bestehen, wenn ich nicht gewinnen will. Es wird für mich also enorm wichtig, Beruf und Privat strikt zu trennen. Ich will in meinem Privatleben emotional erfolgreich sein. Und das bedeutet, eine angreifbare, authentische Frau zu sein, die keine Angst davor hat, auch ihre dunklen und schwachen Seiten zu zeigen. Ich lege meinen Panzer zur Seite und lasse mein Licht leuchten.

Liebe und Zugehörigkeit gehören unverzichtbar zu einem Leben aus vollem Herzen dazu. Um diese Liebe und Zugehörigkeit zu empfinden, gibt es keinen anderen Weg, als mich berührbar und verwundbar zu machen.

Die Zauberfrage lautet: „Was bedeutet für mich Erfolg?“

Und wenn ich mir diese Frage stelle, geht es nicht um Gewinnen und Macht. Es geht darum, wie ich als Liebespartnerin, als Freundin, als Mutter und als Teil einer Gemeinschaft emotional erfolgreich sein will.

Wovor habe ich Angst? Wofür schäme ich mich? Schaffe ich es, mich in kleinen Schritten zu zeigen? Lasse ich die Menschen um mich herum mal einen kurzen Blick hinter meine Masken werfen? Gibt es Menschen, denen ich diesen Blick zutraue? Ich mache das zu meiner täglichen Praxis, wenn ich mit Menschen Kontakt habe.

Ich lerne, zu erkennen, wenn mich dieses beschämende Gefühl beschleicht. Ich fühle, wie jemand eine Schwäche bei mir entdeckt hat. Was sind meine Körperreaktionen, wenn eine Schamattacke kommt? Schnürt es mir den Hals zu? Bekomme ich einen heißen Kopf? Werde ich aggressiv oder möchte ich versinken? Ich nehme es als das an, was es ist: eine Schamattacke.

Ich hinterfrage kritisch, ob ich das überhaupt sein will, was gerade von mir verlangt wird. Was für Möglichkeiten habe ich, aus dieser Situation herauszukommen? Es ist unerlässlich, dass ich mich mit diesen Situationen auseinandersetze. Ich schreibe sie in mein TDE. Ich spreche mit meinem inneren Kind darüber. Wieso ist es für mich eine Blamage? Wovor habe ich Angst? Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Vielleicht gibt es einen Menschen, dem ich mich jetzt anvertrauen kann. Die Scham hasst es, wenn man über sie spricht. Sie löst sich dadurch auf.

„Dem richtigen Menschen kann ich nichts Falsches sagen.“

Wenn mir Menschen von Begegnungen mit Berühmtheiten oder „großen Menschen“ erzählen, kommen immer folgende Beschreibungen: „Die ist ganz normal und bodenständig. Sie hat ganz normal mit mir geredet.“ Ja, weil sie authentisch ist und keine Maske trägt. Darum ist diese Frau erfolgreich.

Wenn ich Menschen in meinem Umfeld habe, die in der Täter-Opfer-Welt gefangen sind, kann ich ihnen helfen, indem ich mich öffne und mich mit ihnen verbinde, mit meiner Verwundbarkeit, meinem Mitgefühl und meinem Wunsch nach Zugehörigkeit. Das kann ihnen die Sicherheit geben, sich ebenfalls zu zeigen. Kein Bewerten, kein Vergleichen, kein Besser/Schlechter. Jede ist auf ihrem Weg.

Panzer E: Ich blende mit übermäßiger Offenheit

Wenn ich jemanden kennenlerne, falle ich gleich mit der Tür ins Haus. Ich erzähle intime Dinge von mir, als würden wir uns schon ewig kennen und wären beste Freundinnen. Ich überspringe die Schritte des Vertrauensaufbaus (siehe 01 „Mein Weg“ > Schritt 4 „Ich mache das richtig gut“). Ich glaube, dadurch gleich testen zu können, wie wichtig ich meiner neuen Bekanntschaft bin und ob die Verbindung etwas taugt.

Die andere Person ist aber überfordert von meiner Distanzlosigkeit. Sie ist wie geblendet von meinem grellen Licht. Sie ist irritiert und zieht sich zurück. Wahrscheinlich schottet sie sich ab und ist an weiteren Treffen nicht sehr interessiert. Also erhöhe ich die Intensität meines Scheinwerfers, weil ich glaube, dass ich dann endlich das gewünschte Ergebnis erzwingen kann: Verbundenheit.

Wie immer, wenn ich das Verhalten verstärke, welches das Problem erzeugt, kann ich das Problem damit nicht lösen. Damit bekomme ich die Bestätigung, dass ich minderwertig bin und nicht dazugehöre. Die anderen mögen mich nicht. Offen zu sein und Verwundbarkeit zuzulassen, nützt also auch nichts. Ich schäme mich dafür, wie ich bin, und gerate immer tiefer in diesen Strudel hinein. Ich werde nie gute Freunde und Freundinnen haben.

Um diesem Strudel zu entkommen, wende ich den Zaubertrick der drei Pforten an. Jeder Gedanke, den ich mitteilen will, muss zuerst durch diese drei Türen, bevor ich ihn ausspreche:

  1. Ist es wahr, übertreibe ich oder erfinde ich hier etwas?
  2. Ist es notwendig und ein wertvoller Beitrag, der einen Mehrwert schafft?
  3. Ist es freundlich und gut gemeint? Stärkt es unsere Verbundenheit und überfordert niemanden?

Ich schreibe die drei Pforten in mein TDE. Ich analysiere in Ruhe die Gespräche mit Menschen, die ich kennenlerne. Was waren die Themen, über die wir gesprochen haben? Was habe ich alles von mir erzählt? Wie waren die Reaktionen?

Einen weiteren Grundsatz kann ich hier beherzigen. Ich spreche bei meinen ersten Treffen nicht über offene Wunden. Nichts, das mich emotional gerade sehr fordert und das ich noch nicht richtig einordnen kann. Mir ist bewusst, dass der Vertrauensaufbau ein sensibler Prozess ist. Er braucht Zeit, wie das Wachstum einer zarten Pflanze. Ich kann nicht an ihr ziehen, damit sie schneller wächst. Ich habe Geduld. Ich bin richtig.

Panzer F: Ich flüchte

Ich will dem Konflikt, etwas Unangenehmem, einer möglichen Verletzung, einer Blamage, Kritik und auch meiner eigenen Selbstkritik entkommen. Ich versuche, mich zu verstecken, etwas vorzutäuschen, vermeide den Kontakt, versuche, es wegzuargumentieren, gebe anderen die Schuld oder sage die Unwahrheit.

Am beliebtesten ist wohl das Aufschieben und Verschleppen. Vielleicht löst sich das Problem ja in Luft auf. Ich rede mir ein, dass es besser ist, noch zu warten. Ich muss dies und jenes noch vorher erledigen.

Die Zauberfrage lautet: „Was ist das Schlimmste, das mir passieren kann?“

Ich male mir aus, was geschieht, wenn ich mich dem Konflikt stelle. Werde ich es überleben? Gibt es überhaupt eine realistische Alternative, der Situation zu entkommen, ohne mich zu stellen?

Ich verwende meinen Atem, um zu mir zu kommen. Ich bereite mich vor. Ich werde das überleben. Die Ungewissheit dieses ungelösten Problems nagt an mir. Ich schlafe schlecht. Ich kann es lösen, indem ich den Mut aufbringe, mich zu stellen. Hier bin ich. Ich mache es, so gut wie ich kann. Ich übernehme Verantwortung. Es kann sein, dass ich jemanden enttäuscht habe. Ich bekomme die Chance, es wiedergutzumachen. Vielleicht aber auch nicht. Ich kann nicht jeden lieben und nicht jeder kann mich lieben.

Panzer G: Ich zeige mein Leid

Wenn ich nur mein Leid zeige, aber nicht, was darunter liegt, ist das auch eine Art Flucht. Ich zeige dir meine Tränen, meine Enttäuschung, meine Erschöpfung oder meine Wut. Ich ziehe mich leidend zurück oder brülle dich an. Damit kontrolliere ich die Situation und bin nicht mehr angreifbar.

Ich bringe mich in die moralisch überlegene Position. Ich bin das Opfer. Ich kann gar nichts falsch gemacht haben. Ich schütze mich damit vor Kritik und muss mich selbst nicht hinterfragen und meine eigenen Anteile beleuchten.

„Wer leidet, will Recht haben.“

Das Leid ist eine Art Schutzemotion, welche die wahren Gefühle verbirgt. Meine Wut überdeckt die Traurigkeit und ich behalte die Kontrolle. Meine Frustration überdeckt die Angst, nicht liebenswert zu sein, und ich bekomme Aufmerksamkeit. Mein übertriebenes Leid überdeckt meine Scham oder meine Abhängigkeit und ich erzwinge Nähe und Mitleid.

Es ist mein inneres Kind, das schreit, weil es verletzt ist, sich abhängig oder bedürftig fühlt, klein und hilflos. Ich nehme es mit meinem Leid oder meiner Wut in Schutz. Das habe ich gelernt, als ich wirklich noch ein kleines Kind war. Es war meine Strategie, mich vor Angriffen meiner Bezugspersonen zu schützen.

Heute schütze ich mich dadurch jedoch nicht nur vor Verletzungen, sondern auch vor echter Nähe. Die anderen können nicht sehen, wie es mir wirklich geht und ich sage nicht, was ich wirklich brauche. Ich habe Angst vor dem Schmerz, den meine wahren Gefühle auslösen können, oder vor Zurückweisung.

Ich verhindere mit meinem Leidenspanzer einen vertrauensvollen Verbindungsaufbau. Ich zeige dir nicht mein wahres authentisches Ich. Durch das Zudecken meiner Trauer, Angst, Scham oder Schuld können diese Gefühle in mir immer weiter wachsen. Erst wenn ich sie herauslasse, kann ich sie auflösen. Sie verschwinden, wenn ich sie zeige.

Die Zauberfragen lauten: „Was brauche ich wirklich? Wonach sehne ich mich?“

Wenn ich in meinem TDE also Situationen beschreibe, in denen ich mich in Tränen aufgelöst und verkrochen habe oder jemanden angebrüllt habe, weiß ich, dass ich in Wahrheit meine wahren Gefühle und Bedürfnisse unterdrückt habe. Ich habe mich geschützt.

Ich gehe mithilfe meiner Atmung nochmals in diese Situation und erinnere mich, wie es mir ergangen ist. Vielleicht gab es einen Streit, ich habe geheult, gebrüllt oder mich verkrochen. Was habe ich in meinem Körper gespürt – in Bauch, Kehle, Kopf und Herz oder Brust? Ist da Druck, Enge, Wärme, Zittern, Leere? Wie habe ich mich verhalten? Und es ist vollkommen okay, wie ich mich verhalten habe.

Jetzt gehe ich einen Schritt tiefer. Ich öffne die Tür zu meinen dunklen Winkeln und schalte meine Taschenlampe ein. Was habe ich mir in dieser Situation eigentlich wirklich gewünscht? Was hätte ich gebraucht? Vielleicht sehe ich mein kleines inneres Kind und seinen sehnlichen Wunsch. Ich fühle jetzt mit meinem Herzen, meiner Seele und nicht mit meinem Verstand.

„Ich sehne mich nach deiner Nähe.“

„Ich habe Angst, nicht liebenswert zu sein.“

„Ich fühle mich klein und wertlos.“

„Ich habe Angst, mich zu blamieren.“

„Ich möchte, dass du mich verstehst.“

„Ich habe Angst, verletzt oder verlassen zu werden.“

„Etwas macht mich unfassbar traurig.“

Diese Gefühle dürfen alle da sein. Auch wenn es wehtut. Ich heiße sie willkommen, denn sie zeigen mir, was mir wirklich wichtig ist, was mich bedroht und was ich gerade brauche. Meine wahren Gefühle sind mein inneres Navigationssystem. Sie weisen mir den Weg zu meinen Bedürfnissen und zu meinem authentischen Selbst.

Ich nehme mein inneres Kind in den Arm. Ich sehe dich. Deine Gefühle sind echt und richtig. Es ist gut. Ich bin für dich da. Ich pass auf dich auf. Danke, dass du mir meinen Weg zeigst.

Ich trete aus dem dunklen Winkel hervor und betrachte noch mal meine Schutzgefühle und mein Schutzverhalten: Ich wollte mich damit vor … schützen. Es war mir wichtig, dass niemand … sehen kann. Es ist mein Kopf, der mich vor Schaden beschützen will, mein Ego. Ich danke ihm dafür. Es ist seine Aufgabe als Sicherheitschef. Ich muss ihm aber nicht blind folgen.

Jetzt bekomme ich eine Ahnung von meinem wahren Selbst. Ich erkenne, dass ich nicht meine Gedanken bin. Sie sind mein Sicherheitssystem. Ich nehme meine Gefühle wahr. Ich bin aber auch nicht meine Gefühle, mein Schmerz, meine Trauer, meine Angst. Sie sind mein Navigationssystem. Sie zeigen mir, was mir wirklich wichtig ist. Mein wahres Selbst ist wie ein Beobachter. Ich schaue mir selbst beim Leben zu.

Panzer H: Ich bin die Coolste, zynisch und grausam

Dieser Panzer ist nicht nur ein Schutzschild, er ist auch eine Waffe. Ich greife andere aktiv an. Ich rede schlecht über sie, zeige mit dem Finger auf sie und stelle sie bloß. Sie werden zur Zielscheibe meines Spotts. Dabei versuche ich, mir selbst den Titel „Coolste weit und breit“ zu verleihen. Ich brauche nichts und niemanden und mir kann keine das Wasser reichen.

Als Erwachsene verstecke ich mich oft hinter Titeln, Ausbildungen, meinem Alter und Jobs, die ich habe oder hatte. Oder ich gebe mit angeblichen Freundinnen und Freunden oder Personen, die ich kenne, an. Ich versuche, andere zu übertrumpfen. Warum mache ich das?

Vor allem Menschen, die aus vollem Herzen leben, offen und verwundbar sind, werden zur Zielscheibe, weil sie mich spiegeln und mir zeigen, was ich nie haben werde. Menschen, auf die ich herabschaue und die ich verhöhne, haben meistens etwas, das ich vergeblich begehre, nämlich den Mut, etwas Großes zu wagen, sich zu zeigen, ohne darauf zu achten, ob sie dabei gut aussehen und die mit offenem Visier in die Arena treten.

Ich kann mir bei meiner Arbeit mit meinem TDE also in Ruhe überlegen, was die Menschen, über die ich herziehe, für Eigenschaften haben. Vielleicht möchte ich auch gerne einen etwas leichteren und spielerischen Umgang mit Aufgaben haben und wieder ein bisschen mehr Kind sein können. Vielleicht möchte ich meinem seicht dahinplätschernden Leben mehr Spannung verleihen und mit den anderen in die Arena steigen, um mich zu zeigen.

Ich kann mir überlegen, was es eigentlich ist, das mich so anstachelt. Habe ich den Mut, in meine dunklen Ecken zu leuchten? Hier zeigt sich, ob ich wirklich etwas verändern will. Wofür ist meine Kritik gut? Ist sie wahr? Ist sie notwendig? Ist sie freundlich? Oder ertrage ich den Schmerz meines geringen Selbstwertes nicht?

Aus der Rede eines Politikers im Jahre 1910:

„Es ist nicht der Kritiker, der zählt, nicht derjenige, der aufzeigt, wie der Starke gestolpert ist oder wo der, der Taten gesetzt hat, es hätte besser machen können. Die Anerkennung gehört dem, der wirklich in der Arena ist; dessen Gesicht verschmiert ist von Staub und Schweiß und Blut; der sich tapfer bemüht; der irrt und wieder und wieder scheitert;

der die große Begeisterung kennt, die große Hingabe, und sich an einer würdigen Sache verausgabt; der, im besten Fall, am Ende den Triumph der großen Leistung erfährt; und der, im schlechtesten Fall des Scheitern, zumindest dabei scheitert, dass er etwas Großes gewagt hat.“

„Die einzige echte Währung in dieser Welt ist das, was ich jemandem anvertraue, wenn ich uncool bin.“


Alle diese Panzer setze ich ein, weil ich Angst habe. Ich habe Angst vor den Reaktionen der Menschen, die mir zuschauen und die mich verletzen können. Mein inneres Kind hat Angst davor, ausgeschlossen zu werden und nicht mitmachen zu dürfen. Gegen diese Angst kann ich mich nicht wehren. Drückt jemand bei mir einen Knopf, weil er mich angreift, mich kleinmacht, mir einen Fehler vorwirft, mich herausfordert oder mich bloßstellt, aktiviere ich sofort meine Protektoren.

Je nachdem, was die erfolgreiche Strategie als Kind war, kommt sie auch jetzt zur Anwendung. Ich schieße zurück, raste aus, ziehe mich zurück, versuche, mich unsichtbar zu machen, verstecke mich hinter Perfektionismus, werde überheblich, verletze andere. Ich habe, wie wir alle, meine ganz persönliche Art, mich zu schützen.

Die Folgen sind für mich und meine Liebsten fatal. Diese Angst, verletzt zu werden, mich zu blamieren, dieser Moment der Niederlage, wenn mein Ego triumphiert: „Ich habe dir doch gesagt, dass du es nicht schaffst!“ Diese Angst hindert mich daran, ein Leben aus vollem Herzen zu leben. Uneingeschränkt meinen Weg zu gehen, mein Potenzial zu erkennen und zu entwickeln. Rückhaltlos und mutig in die Arena zu steigen und mich zu zeigen. Hier bin ich! Ich bin gut genug!

Stattdessen mache ich mir und anderen Menschen Vorwürfe. Ich mache mir und meinen Lieben das Leben schwer. Ich halte mich zurück und verhindere dadurch, dass ich mit meinem Potenzial, meinen Stärken und Fähigkeiten nützlich bin. Ich hätte etwas beizutragen, aber ich traue mich nicht. Ich sollte aufstehen gegen Ungerechtigkeit, aber ich habe Angst vor den Konsequenzen. Ich erlaube anderen, meine Grenzen zu überschreiten, weil ich mich vor dem Konflikt scheue.

Ich habe jetzt aber verstanden, dass ich das nicht bin, sondern dass ich das gelernt habe. Besser gesagt, dass ich das lernen musste. Meine Eltern und Bezugspersonen haben mich klein gemacht, mir Gewalt angetan und mir gezeigt, dass ich nicht gut genug bin. Sie haben mich vor meinen Freunden und Freundinnen beschimpft.

Sie haben mir wegen schlechter Noten eine Standpauke gehalten, wenn andere mich beim Sport besiegt haben, wenn ich beim Musizieren Fehler machte. Sie haben mich wegen meiner Kleidung oder wegen meiner Haare kritisiert oder sich darüber lustig gemacht.

Das alles kann ich nicht mehr ändern. Ich kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen. Es wird mir nicht helfen, wenn ich mir andere Eltern wünsche. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, dass meine Eltern sich bei mir für alles entschuldigen, alles wiedergutmachen und mir meine Ängste wieder wegnehmen. Ich kann sie verteufeln, so viel ich will. Mein Rucksack wird dadurch nicht leichter. Und sie haben keine Schuld. Sie konnten es nur so gut machen, wie ihre eigenen Traumata es zuließen.

Ich kann auch versuchen, einen Partner zu finden, eine bessere Hälfte, die mich wieder ganz macht. Einen, der mir das gibt, was ich nie bekommen habe und am meisten vermisse. Einen, der mich heilt und bei dem ich keine Angst mehr haben muss. Diesen Partner gibt es nicht und wenn es ihn gäbe, wäre es nicht seine Aufgabe.

Ich lasse los. Ich vergebe allen Beteiligten. Ich höre auf, in Gedanken mit ihnen zu diskutieren, zu streiten, mich zu rechtfertigen und sie zu beschuldigen. Ich lasse sie wie Wolken am Himmel weiterziehen. Ich beschwere mich nicht mehr.

Auf mich habe ich gewartet. Ich bin ab jetzt mütterlich gut zu mir selbst. Ich bin gut genug. Nicht nur das, ich mache das sogar richtig gut. Ich nehme den Erzählungen meiner Kindheit die Macht, indem ich mich um mich selbst und mein inneres Kind kümmere. Ich gebe mir selbst das Versprechen, dass ich meinem Ego nicht mehr blind vertrauen werde, wenn es versucht, mich einzuschränken und mich klein zu machen. Mir ist bewusst, dass es seine Aufgabe ist, mich zu schützen.

Ich schenke meinen Gefühlen Aufmerksamkeit. Sie zeigen mir, was mir wirklich wichtig ist. Sie bringen mich auf meinen Weg. Sie sind mein Navigationsinstrument. Ich spüre tief in mich hinein und lasse alle Gefühle zu. Sie sind alle richtig, einfach nur darum, weil es meine sind. Ich vertraue mir.

Ich will keine Angst mehr haben, einen Fehler zu machen. Ich will nicht mehr beim ersten Gedanken daran, etwas zu wagen, erstarren. Ich höre auf, nach Schuldigen zu suchen und mit dem Finger auf andere zu zeigen. Denn dabei zeigen immer drei Finger auf mich selbst.

„Was ich mich nicht traue, das erlebe ich nicht.“

Und am Ende zählen nur die Erlebnisse. Ich erinnere mich nur an die emotionalen Momente – die guten sowie die schwierigen. Die beiden gibt es nur im Doppelpack. Entweder ich gehe ein Wagnis ein oder nicht. Wie es ausgeht, ist immer ungewiss. Wenn ich es wage, ist es aber immer mutig und niemals dumm.