02 Mein Licht – Spot 3
Was erwartet man von mir?
Es ist ein Paradox: Wir leben in einer Gesellschaft, wo scheinbar nur der Sieg zählt, nur der Erfolgreiche beachtet wird. Die Medien zeichnen ein ganz genaues Bild, wie Frauen und Männer jeweils sein müssen, damit sie dazugehören dürfen. Frauen sollen von Natur aus schön, schlank und in allem perfekt sein – vor allem im Bett, als Mutter, als Tochter, in Küche und Haushalt, als Freundin und am Arbeitsplatz. Und das scheinbar mühelos.
Damit sich Männer nicht schämen müssen, sollen sie sich Gefühle verkneifen, Geld verdienen, andere auf ihren Platz verweisen und nach oben kommen. Es geht ums Gewinnen, um emotionale Kontrolle, Risikofreude, Gewalt, Dominanz, Playboysein, Eigenständigkeit, Priorisierung von Arbeit, Macht über Frauen und Streben nach Status.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer auf den Mangel hingewiesen wird: Ich wache in der Früh auf und denke, ich habe zu wenig geschlafen und heute zu viel zu tun. Am Abend lege ich mich ins Bett und denke, ich habe meine Übungen nicht gemacht, die und den nicht angerufen, nicht aufgeräumt und mein Herzensding nicht gemacht. Auch Wehmut und ein verklärter Blick in die Vergangenheit gehören dazu. Früher war es noch einfacher, schöner, besser, …
Die Medien schüren Angst und Unsicherheit. Dauernd wird verglichen, wer besser, schlechter oder schuld ist. Wir schämen uns dafür, nicht gut genug zu sein oder nicht genug zu besitzen. Wir ziehen uns zurück und wollen uns nicht mehr zeigen. Oder wir schießen aus allen Rohren, um von unserem mangelnden Selbstwert abzulenken.
Narzissmus (übertriebene Selbstliebe), Größenwahn, die Suche nach Bewunderung und das Denken, einen Anspruch, ein Recht auf alles zu haben, fühlen sich wie Balsam gegen den Schmerz an, eine durchschnittliche und unzulängliche Existenz zu führen. Unsere Kultur des Mangels produziert diese Narzissten.
Das Gegenteil des Mangeldenkens ist jedoch nicht der Überfluss. Ich kann mich aus dem Mangel nicht freikaufen. Es gibt nur einen Weg da raus: „Ich bin gut genug“. Ich lerne, wieder in die Arena zu treten, ohne Panzer, ohne Schutzschild, ohne Maske, völlig nackt, und zu sagen: „Schaut ruhig her. So gut bin ich, nicht besser und nicht schlechter.“
Das Paradoxe in unserer Gesellschaft und den Medien ist jetzt aber, dass wirklich erfolgreiche Menschen, nämlich emotional erfolgreiche Menschen, eben nicht perfekt sind. Sie zeigen sich, ihre Ecken und Kanten, ihre Schwächen und Stärken. Sie sind angreifbar. Sie stellen sich in die Arena. Sie sind authentisch im Beruf, in der Liebe, in der Familie und auf der Party.
Emotional erfolgreiche Menschen lassen es zu, verletzt zu werden. Sie wagen etwas, bei dem sie auch scheitern können. Sie fallen, stehen dazu, übernehmen Verantwortung, stehen wieder auf und gehen weiter ihren Weg. Es braucht viel Mut, sich angreifbar und verletzbar zu machen. Es ist aber die Quelle für Kreativität und Entwicklung.
Ich kann mein Licht nicht leuchten lassen, wenn ich Angst davor habe, was die anderen von mir denken; wenn ich beim bloßen Gedanken daran, mich zu zeigen, vor Scham schon fast vergehen möchte. Scham ist die Handbremse für die Entfaltung meiner Talente, meiner Größe, meines Beitrags für meine Gruppe.
„Ich bin nicht Opfer der Umstände, ich bin Opfer meiner selbst.“
Ich stelle mir vor, dass ich etwas sehr Persönliches geschaffen habe – ein Gedicht geschrieben, ein Lied komponiert, ein Bild gemalt. Das möchte ich gerne meinen Freundinnen und Freunden zeigen. Wenn ich nun meinen Selbstwert daran knüpfe, was die anderen darüber sagen, bedeutet das, dass ich sie entscheiden lasse, ob ich ein guter oder ein schlechter Mensch bin. Somit habe ich zwei Möglichkeiten.
A: Ich zeige es ihnen nicht, weil das Risiko zu groß ist, oder ich lasse brisante Details weg und spiele mein Werk als reinen Jux und Tollerei herunter und behaupte, dass es mir gar nichts bedeutet.
B: Ich zeige es ungeschminkt her und wenn ich dann Kritik ernte, bin ich am Boden zerstört. Mein innerer Kritiker wird laut rufen, dass er immer schon gesagt hat, dass ich es nicht draufhabe. Ich werde nie wieder etwas Neues, Künstlerisches oder Großes wagen.
Ich will lernen, dass die Beurteilung meiner Leistung durch andere nicht meinen Selbstwert angreift. Ich habe vielleicht etwas nicht gut gemacht oder es ist zumindest nicht gut angekommen, bei denjenigen, denen ich es gezeigt habe. Das bedeutet aber nicht, dass ich ein schlechter Mensch bin. Ich konnte es in dem Moment noch nicht besser.
Ich bin auf meinem Weg. Mein Werk ist ein Abbild meines Entwicklungsstandes. Ich lerne dazu und werde immer besser. Vielleicht haben sie mit ihrer Kritik ja auch recht. Vielleicht kann ich es wirklich besser. Also bleibe ich dran und gehe mutig meinen Weg. Ich mache das richtig gut.
Ich lerne auch, dass das Timing bei kreativen Prozessen und Kritik sehr wichtig ist. Bin ich mit meinem Bild oder Gedicht gerade fertig geworden, bin ich wie in einem Rauschzustand. Ich finde es genial. Ich bin ein Genie. In diesem Zustand wird mich Kritik immer treffen wie ein Messer in den Bauch.
Als Schaffender kann ich also warten, bevor ich mein Werk zeige. Nach einigen Stunden oder Tagen gewinne ich wieder Abstand zu meinem Werk. Es tritt eine gewisse Ernüchterung ein. Ich kann mein Werk selbst etwas kritisch sehen und damit Kritik besser annehmen.
Wenn mir jemand sein Werk zeigt, kann ich spüren, in welcher Phase der Künstler gerade ist. Ist er in der Anfangsbegeisterung, werde ich diese voller Freude mit ihm teilen und mit meiner Kritik warten, bis er dafür offen ist. Ich werde mich immer vorher vergewissern, ob meine Meinung überhaupt gefragt ist.
Vorsicht bei Kindern! Sie können nicht warten, mir etwas zu zeigen. Sie kommen immer mit ihrer überschwänglichen Freude zu mir. Wenn ich sie kritisiere und ihnen zeige, was sie „falsch“ gemacht haben, untergrabe ich ihren Selbstwert und verletze sie. Ich lasse die Kritik bleiben und freue mich uneingeschränkt mit ihnen mit. Kritik wartet auf die richtige Gelegenheit.
Als Kind fand ich Mittel und Wege, um mich gegen seelische Verletzungen zu schützen: gegen Schmerz, Herabsetzung und Enttäuschung. Ich habe mir seelische Panzer zugelegt, meine Gedanken, Gefühle und mein Verhalten als Waffen verwendet und gelernt, mich rar zu machen oder sogar in Luft aufzulösen.
Jetzt, als Erwachsener, erkenne ich, dass ich den Mut aufbringen will, mich zu zeigen und die Angst vor Verletzung und Blamage zu besiegen, um ein sinnvolles und couragiertes Leben in Verbundenheit mit anderen zu führen – um der Mensch zu sein, der ich sein kann. Ich befreie mich von seelischen Panzern, lege die Waffen nieder, mache mit und zeige mich.
„Das schaffe ich doch leicht alleine!“
Wenn ich nach diesem Glaubenssatz lebe, werde ich erstens wenig erreichen und zweitens sehr einsam sein. Und schon kommt das nächste Paradox. Um Hilfe zu bitten, gilt allgemein als Schwäche. Besonders bei Männern. Und doch sind die Menschen erfolgreich und beliebt, die Fehler machen können, ohne sich zu schämen, die ohne Hintergedanken um Unterstützung bitten und ganz klar und liebevoll auch mal Nein sagen, um sich nicht zu überfordern. Wieso ist das so?
Was denke ich, wenn ich Hilfe bekomme? Wenn mir jemand einen Gefallen tut? Wenn mir jemand einfach so etwas schenkt? Taucht da ein ungutes Gefühl auf? Schäme ich mich dafür? Kann ich das nicht gut annehmen? Denke ich, dass ich das nicht verdiene? Denke ich, dass ich mich revanchieren muss?
Wenn das so ist, habe ich noch Arbeit vor mir. Wer nämlich beim Annehmen von Hilfe Hintergedanken hat, der hat auch Hintergedanken beim Geben. Erwarte ich mir Dankbarkeit, Loyalität, Freundschaft, Liebe oder eine Gegenleistung für meine Unterstützung, stecke ich noch im Sumpf.
In meinem TDE stehen vielleicht Situationen, in denen ich mich über jemanden geärgert habe, weil er nicht zu einem Treffen gekommen ist, weil er sich um sich selbst kümmern wollte. Ich war wütend, weil sich jemand nicht gebührend bedankt hat, nachdem ich ihn zum Essen eingeladen habe und schwöre mir, den nie wieder einzuladen.
Die Gesellschaft anderer Menschen strengt mich an, weil ich stets versuche zu gefallen, alles zu kontrollieren, ja nichts Falsches zu sagen und möglichst perfekt zu wirken. Ab jetzt werden in solchen Situationen immer die Alarmglocken läuten! Ich will da raus.
Im Schulsystem lerne ich, dass ich für Fehler bestraft werde. Also möchte ich sie vermeiden. Die meisten Eltern übernehmen dieses Denken und bestrafen ihre Kinder auch zu Hause für nicht angepasstes Verhalten. Dabei heißt es doch: „Aus Fehlern wird man klug“. Es ist ein harter Weg, diese vielen Jahre der Konditionierung wieder loszuwerden. Wenn ich wirklich emotional erfolgreich sein will, dann lerne ich, Schritt für Schritt die Angst loszuwerden, Fehler zu machen.
Profiverkäufer lernen Folgendes: Wenn ich im Verkaufsgespräch auf jede Frage eine Antwort weiß, mache ich weniger Abschlüsse, als wenn ich mal sage: „Das weiß ich jetzt nicht, kann ich für Sie aber noch in Erfahrung bringen.“ Wieso ist das so? Schwäche zuzugeben, macht uns menschlich und wir wollen von Menschen kaufen, nicht von Robotern. Sind Besserwisser und Klugscheißer beliebt? Nein! Also höre ich damit auf.
