01 Mein Weg – Schritt 3

Ich bin mütterlich gut zu mir selbst

Ich bin dafür verantwortlich, jene Dinge zu lernen, die es mir ermöglichen, meine Bedürfnisse zu befriedigen. In mir steckt immer noch das kleine Kind, das ich mal war. Dieses Kind in mir wird manchmal wütend, ist traurig, schämt sich, hat Angst oder will Rache. Meine Eltern können meinem inneren Kind nicht mehr helfen.

Es ist verletzt und ich gebe meinen Eltern vielleicht die Schuld an meinen Verletzungen. Wenn ich an diesem Bild festhalte, wird mich das ein Leben lang lähmen. Alles, was ich tun kann, ist, dieses Kind in mir liebevoll anzunehmen, mit seinen Stärken, Schwächen und Verletzungen, und es ab jetzt immer in Schutz zu nehmen und selbst die beste Mutter und der beste Vater für mein inneres Kind zu sein.

Als Kind war ich vollkommen schutz- und machtlos meinen Eltern und Bezugspersonen ausgeliefert. So wie es übrigens meine Eltern auch waren, als sie klein waren und deren Eltern auch und so weiter und so fort. Jede Generation hat den Rucksack wieder umgehängt bekommen, gefüllt mit Wollen und Wünschen – du musst und du darfst, du bist gut und du bist schlecht, du bist richtig und du bist falsch.

Es ist jetzt ganz essenziell zu verstehen, dass die Verbindung zu meinen Eltern und meinen Bezugspersonen so etwas wie meine erste Liebesbeziehung war. Und nicht nur das. Sie ist sozusagen mein Prototyp, meine Blaupause für meine optimale Liebesbeziehung. Ohne mir dessen bewusst zu sein, erkenne ich, wenn ich erwachsen bin, meine wahre Liebe daran, dass ich mich so fühle, wie ich mich als Kind gefühlt habe, in meiner ersten „Liebesbeziehung“ mit meinen Eltern.

Ich gehe unbewusst Beziehungen mit Personen ein, die ähnliche Wesenszüge wie meine Eltern haben und sich somit vertraut anfühlen. Es fühlt sich an wie die wahre Liebe. Wenn ich gerade in einer Liebesbeziehung bin, bekomme ich ganz viel „Futter“ für mein TDE. Wenn es zu Reibereien kommt, schaue ich mir an, was davon mit meinem inneren Kind zu tun hat.  

Diese Methode heißt „Reparenting“ und ist so genial wie einfach. Ich übernehme selbst die Elternrolle für mein inneres Kind. Das ist die Chance, meine Kindheitsverletzungen zu heilen. Meine wahren Eltern können mir dabei nicht mehr helfen.

Ich öffne meinen Rucksack und schaue hinein. Stein für Stein nehme ich heraus und lege sie an meinem Wegesrand ab. Ich brauche sie nicht mehr. Als Hilfestellung sind hier sechs Bereiche beschrieben, die mein inneres Kind belasten können. Ich spüre tief in mich hinein und stelle eine Verbindung zwischen heute und früher her, als ich noch ein Kind war.

  1. Meine Eltern haben meine Wirklichkeit verleugnet.

„Das ist doch Blödsinn, was ich da rede.“ „Ich habe doch keine Ahnung vom Leben.“ „Das sind doch Hirngespinste.“ Ich habe gelernt, dass meine Meinung nicht zählt. Dieser Glaubenssatz ist in meinem Rucksack und beeinflusst mein Leben jeden Tag. Ich bin abhängig von der Meinung anderer, weil ich dieser mehr Gewicht gebe. Ich bin nicht wichtig.

  • Meine Eltern haben mich nicht gesehen oder gehört.

Ich bin ignoriert worden, als wäre ich gar nicht da. Wenn ich etwas war, dann nur eine lästige Pflicht und eine mühsame Aufgabe. Sie haben mich nie nach meiner Meinung gefragt oder was ich möchte. Es wurde einfach über meinen Kopf hinweg geredet und entschieden.

Was ich gelernt habe, ist, dass ich wirklich klein und unbedeutend bin. Ich habe nicht das Recht, meine Stimme zu erheben. Mir muss man nicht zuhören. Was ich zu sagen hätte, ist unbedeutend.

  • Meine Eltern wollten mich formen und einen Mensch nach ihren Idealen gestalten.

Ich soll es einmal besser haben wie meine Eltern. Sie haben geglaubt zu wissen, was gut für mich ist. Oder vielleicht sollte ich in ihre Fußstapfen treten und ein noch erfolgreicherer Arzt, Anwalt oder Musiker werden. Sie haben die Ausbildung für mich gewählt und mich nach ihren Vorstellungen gefördert. Die einen meiner Freunde gelobt, die anderen verunglimpft.

Ich habe nicht die Möglichkeit bekommen, mir selbst eine Richtung zu geben. Ich habe keinen Zugang zu meiner Intuition. Ich traue mich allein nicht, weiterreichende Entscheidungen zu treffen. Ich stecke im falschen Beruf. Ich wünsche mir ein anderes Leben.

  • Meine Eltern konnten keine Grenzen setzen und haben meine Grenzen nicht respektiert.

Es gab keine klaren Regeln, auf die ich mich verlassen konnte. Es herrschte absolute Willkür. Einmal wurden die Regeln so ausgelegt und dann wieder genau gegenteilig. Vielleicht wollten meine Eltern auch immer das Beste für mich und ließen mir alles durchgehen.

Sie kramten in meinen persönlichen Sachen herum – es durfte keine Geheimnisse geben. Ich konnte nicht alleine im Badezimmer sein. Sie erzählten mir intime Dinge von sich oder ihrer Beziehung oder von Menschen, die ich kannte. Intime Dinge, für die ich noch zu klein war, um sie richtig zu begreifen.

Ich habe ebenfalls zu lockere oder zu starre Grenzen. Ich kann generell nicht Nein sagen oder bin eher verschlossen und lasse kaum jemanden an mich ran. Ich beteilige mich an Klatsch und Tratsch, um dazuzugehören. Die Meinung anderer ist mir wichtiger als meine eigene.

  • Meinen Eltern waren Äußerlichkeiten sehr wichtig.

Das Aussehen, die Kleidung und die Körperpflege waren ständiges Thema. Ich lernte, dass es Aspekte meines Aussehens gab, die annehmbar waren und andere nicht. Auch wurden andere Menschen dauernd kategorisiert in „bewundernswert“ oder in „verabscheuenswert“. Es gab genaue Vorschriften, wie ich mich kleiden musste.

Ich habe dadurch keine Gelegenheit bekommen, meinen eigenen Stil zu finden. Ich bin unsicher, was mein Äußeres betrifft. Ich weiß eigentlich gar nicht, wer oder was ich genau sein kann. Ich versuche mich immer der jeweiligen Situation anzupassen. Ich kenne mein authentisches Selbst nicht. Ich möchte eigentlich anders sein, als ich glaube, sein zu müssen.

  • Meine Eltern hatten ihre Gefühle nicht im Griff.

Sie haben mich angeschrien, Dinge durch die Gegend geschmissen oder Türen zugeknallt. Vielleicht haben sie sich aber auch betäubt mit Arbeit, Alkohol, Drogen, Shopping oder anderen Ablenkungen, um sich nicht mit ihren Gefühlen auseinandersetzen zu müssen. Sehr häufig ziehen sich Eltern in schwierigen Situationen einfach zurück, werden emotional eiskalt und strafen mit Liebesentzug.

Für mich als Kind war das eine massive Überforderung. Die Menschen, von denen mein Leben abhing, entzogen mir ihre Liebe, Nähe und Fürsorge. Wenn ich keine anderen Vorbilder hatte, die mir zeigten, wie man Emotionen regulieren kann, übernehme ich die Strategien meiner Eltern und bin dann auch wieder eine Bezugsperson für andere Menschen, die ihre Gefühle nicht im Griff hat.


Diese Traumata aus meiner Kindheit trage ich als kleine und große Steine jeden Tag in meinem Rucksack mit mir rum. Und jeder Schritt, den ich gehe, wird dadurch beschwerlicher. Ich belaste jedoch nicht nur mich, sondern auch die Menschen in meinem Umfeld.

Wenn ich mir beim Frühstück Kaffee aufs Hemd patze, wasche ich den Fleck aus oder ziehe ein frisches Hemd an. „So kann ich doch nicht rausgehen.“ Mir ist nicht bewusst, dass ich aber jeden Tag aus dem Haus gehe mit Frust, Ärger, Stress, Erschöpfung, Unruhe, Einsamkeit, Depression, Zweifeln, Hilflosigkeit, Gier, Sehnsucht, Trauer, Unsicherheit,

Scham, Leid, Trotz, Neid, Misstrauen, Wut, Eifersucht, Bedürftigkeit, Eitelkeit, Arroganz, Stolz, Hochmut, Mitleid, Kälte, Schuld, schlechtem Gewissen, Druck, Minderwertigkeit, Ohnmacht, Ungeduld, Anspannung, Langeweile, Nervosität, Verzweiflung, Zorn, Melancholie, Korntollzwang,

Lügen und einem Haufen Ängsten und das alles meinen Mitmenschen vor den Latz knalle. Und dabei gebe ich allen anderen die Schuld daran, dass es mir so geht, vor allem meinen Eltern, und deshalb kann ich auch gar nichts dafür, dass ich so bin, wie ich bin.

Bullshit! Ich gebe mich nicht auf. Das kann ich besser. Ich baue eine liebevolle Verbindung zu mir selbst auf. Und die ist dann die Vorlage für meine Liebesverbindungen nach außen. Ich bin ab jetzt mütterlich gut zu mir selbst. Und eines Tages schaue ich in meinen Rucksack und? Überraschung! Er ist leer!

Ich schreibe die sechs Kategorien der Verletzungen meines inneren Kindes in mein TDE und rahme sie ein. Wenn es in meiner Liebesbeziehung emotional wird und ich Gefühle wie Ärger, Wut, Traurigkeit, Einsamkeit, Scham oder Verwundbarkeit wahrnehme, kann ich mit dieser Vorlage prüfen, wo diese Gefühle herkommen.

  • Meine Eltern haben meine Wirklichkeit verleugnet.
  • Meine Eltern haben mich nicht gesehen oder gehört.
  • Meine Eltern wollten mich formen und einen Menschen nach ihren Idealen gestalten.
  • Meine Eltern konnten keine Grenzen setzen und haben meine Grenzen nicht respektiert.
  • Meinen Eltern waren Äußerlichkeiten sehr wichtig.
  • Meine Eltern hatten ihre Gefühle nicht im Griff.

Ich werde mir der Verletzungen meines inneren Kindes bewusst. Wenn ich zum Beispiel in mein TDE eine Begebenheit schreibe, wo mich jemand kleingemacht hat. Vielleicht habe ich mich minderwertig und hilflos gefühlt. Ich habe mich zurückgezogen und wollte aus der Situation raus.

Ich habe mein inneres Kind in Schutz genommen, weil ich diese Situationen als Kind auch schon erlebt habe. Damals konnte ich mich örtlich nicht in Sicherheit bringen. Ich war meinen Eltern schutzlos ausgeliefert. Also habe ich mich innerlich zurückgezogen. Ich habe mir einen Panzer als Schutz um mich herum aufgebaut.

Heute tue ich mir schwer, meinen Panzer zu öffnen und andere Menschen nahe an mich ranzulassen. Mein inneres Kind hat Angst. Meine Eltern können das nicht mehr ändern. Und sie tragen auch keine Schuld daran. Schuldig kann jemand nur sein, wenn er etwas vorsätzlich gemacht hat. Und meine Eltern wollten mir nicht bewusst schaden. Sie haben es so gut gemacht, wie sie konnten. Mehr war ihnen aufgrund ihres Rucksacks nicht möglich. Ich lasse sie friedlich los.

Der einzige Mensch, der jetzt noch etwas ändern kann, bin ich selbst. Ich bin ab jetzt mütterlich gut zu mir selbst. Ich kann die Wunden meines inneren Kindes heilen. Ich kann ihm zeigen, dass es sich auf mich verlassen kann und keine Angst mehr zu haben braucht.

Übung:
Ich fange mit einer ganz einfachen und kleinen Übung an. Es geht darum, dass ich mir Dinge vornehme, die ich leicht erfüllen kann. Ich kann mir zum Beispiel vornehmen, jeden Tag nach dem Aufstehen ein Glas Wasser zu trinken. Jeden Tag, wenn ich mein Versprechen einlöse und das Glas in die Hand nehme, lernt mein inneres Kind, dass es sich auf mich verlassen kann.

Wenn ich dann mal mittags oder vielleicht erst am nächsten Tag merke, dass ich mein Glas Wasser vergessen habe, kann ich darüber lachen und milde mit mir sein. Es macht nichts und ist gar nicht schlimm, dass ich das vergessen habe. Ich bin ein Mensch. Menschen machen Fehler.

Ich mache Fehler – und das ist vollkommen in Ordnung. Ich bin auf meinem Weg und ich lerne. Ich mache das richtig gut. Schritt für Schritt kann ich diese Übung mit weiteren Aufgaben machen. Ich nehme mir aber nur Dinge vor, die ich auch wirklich leicht erfüllen kann. Ich überfordere mich nicht.

Und nein, das ist keine Übung nur für Waschlappen und Weicheier. Ein zwanzigminütiger Spaziergang, den ich tatsächlich mache, ist besser als ein Drei-Kilometer-Lauf, den ich unterlasse. Der unvollkommene Artikel, den ich veröffentliche, ist besser als das perfekte Buch, das nie meine Festplatte verlässt. Die Party mit Catering-Essen vom Italiener ist besser als das Galadinner, das ich nie veranstalten werde.

Ich rede mit meinem inneren Kind. Ich gebe ihm einen Namen. Ich höre ihm zu, wenn es etwas braucht, wenn es Angst hat oder wütend ist. Ich lerne zu verstehen, woher die Verletzungen kommen und ich schließe Frieden mit denen, die sie verursacht haben. Das können die Eltern, andere Bezugspersonen wie Großeltern, Geschwister und andere Verwandte sein, oder Lehrpersonen und andere Kinder und insgesamt Personen, die Einfluss auf mich hatten.

Wenn ich die Vergangenheit ruhen lasse, wird sie mich leben lassen. Ich lasse eine Verletzung nach der anderen los, wenn ich sie erkenne. Ich gebe niemandem mehr die Schuld daran, dass ich so bin, wie ich bin. Nur auf mich habe ich gewartet. Ich bleibe bei mir. Ich bin ab jetzt mütterlich gut zu mir selbst. Mein inneres Kind kann sich jederzeit vollkommen auf mich verlassen.

Es ist für mich eine enorme Erleichterung, wenn ich lerne, mit Gefühlen gut umzugehen. Wenn die Gefühle in mir hochkochen – wie kann ich so eine Gefühlswelle reiten?

  • Ich merke, wie ein Gefühl, zum Beispiel Angst, Wut, Scham oder Trauer, sich in mir breit macht.
  • Ich betäube es nicht mit Arbeit, Alkohol, Drogen, Fernsehen, Shopping oder anderen Ablenkungen.
  • Ich spüre, wie mein Körper reagiert, wie ich unruhig werde, vielleicht fangen meine Hände an zu zittern, mein Kopf wird heiß, es schnürt mir den Hals zu, mein Magen verkrampft sich oder Tränen kommen hoch.
  • Ich benenne das Gefühl: „Das macht mich wütend, wenn …“ „Ich bin traurig, weil …“ „Es macht mir Angst, dass …“ „Ich hasse es, wenn …“ usw.
  • Ich nehme meinen Atem wahr und vertiefe ihn. Ich lasse zu, dass die Gefühlswelle mich komplett durchströmt. Es tut weh. Es tut verdammt weh. Ich lasse alles zu. Das Gefühl nimmt mich völlig ein. Ich atme. Ich spüre, wie der Atem mich durchströmt – wie sich meine Brust und mein Bauch heben und wieder senken. Ich atme, bis ich von selbst wieder ruhiger werde. Mein Körper beginnt sich zu beruhigen. Die Schmerzen lassen nach. Ich lasse mir Zeit, bis sich meine Muskeln wieder entspannen können.
  • Ich bleibe bei mir. Ich lerne, dass mich meine Gefühle nicht „umbringen“. Im Gegenteil: Verdrängte Gefühle werden mit der Zeit zu einer erdrückenden Last. Sie machen mich krank. Nach einer durchlebten Gefühlswelle bin ich erschöpft, aber erleichtert. Die Last ist abgefallen. Ich fühle mich befreit.
  • Ich sehe aufkommenden Gefühlswellen immer gelassener entgegen. Ich werde immer besser darin, sie zu „reiten“ und den Schmerz aufzulösen.

Menschen, die so mit ihren Gefühlen umgehen können, haben auch ihre Ängste im Griff. Menschen, die Ihre Ängste im Griff haben, machen nichts kaputt. Sie müssen andere Menschen nicht mehr kleinmachen, kontrollieren oder manipulieren, um von ihrer eigenen Minderwertigkeit abzulenken.

Sie sind von niemandem abhängig und brauchen niemanden, um sich ganz zu fühlen. Sie glauben nicht, der Nabel der Welt zu sein oder an allem schuld zu sein. Sie erkennen und akzeptieren die Wirklichkeit.

Sie halten es für möglich, dass sie sich irren. Sie sind auf ihrem Weg zu ihrer besten Version und lernen jeden Tag etwas dazu. Sie können Dinge gut sein lassen. Sie können klar denken und sind nicht überfordert von den Aufgaben, die das Leben bringt. Sie können ihrem Leben eine Chance geben, dass es sie genießen kann.