01 Mein Weg – Schritt 5

Ich habe für alles genügend Zeit

Ich mache mir Sorgen und habe Angst vor der Zukunft. Ich versuche, alles zu kontrollieren. Ich treibe mich an, um es perfekt zu machen. Ich reiße mich zusammen. Ich fühle mich für alles verantwortlich und mische mich ein. Ich bin gestresst. Meine Gedanken kreisen ständig in der Zukunft. Ich könnte mein Geld verlieren, meinen Job, den Kindern könnte etwas zustoßen, ich könnte krank werden oder sogar sterben.

Dabei kann ich kaum etwas wirklich kontrollieren. Das Leben lebt mich. Ich habe keine Kontrolle über Situationen und Menschen um mich herum. Sogar meine Gedanken kommen unkontrolliert in meinen Kopf, ohne dass ich sie eingeladen habe. Was ich wirklich lernen kann zu kontrollieren, ist, wohin ich meine Aufmerksamkeit richte und welchen Gedanken ich Glauben schenke.

„Es gibt zwei Tage im Jahr, an denen ich absolut nichts tun kann: gestern und morgen.“

Diana und Maria sitzen nebeneinander im Flugzeug, als plötzlich Turbulenzen auftreten und sie ganz ordentlich durchgeschüttelt werden. Diana schießt sofort der Gedanke, dass sie abstürzen. Sie glaubt, dass das jetzt tatsächlich passieren könnte. Ihr Puls beschleunigt sich, sie fängt an zu schwitzen und ihre Muskeln verkrampfen. Mit jeder Erschütterung wird die Angst größer – Panik macht sich breit.

Auch Maria ist beunruhigt. Es kommt ihr der Gedanke, ob das Flugzeug diese Belastungen wirklich aushält. Sie glaubt jedoch nicht, dass ihnen jetzt etwas passieren kann. Sie entzieht dem Gedanken, dass sie in Gefahr sind, ihre Aufmerksamkeit. Sie kehrt wieder in den Normalzustand zurück und lässt den Gedanken los. Es gibt nichts, was sie jetzt tun kann. Sie hat keine Angst und gerät nicht in Panik. Beide landen sicher auf ihrem Zielflughafen.

Nicht die Dinge an sich sind schlimm, nur die Gedanken, die ich mir über sie mache. Angst und Sorgen kommen immer dann, wenn ich an die Zukunft denke. Ich male mir aus, was alles passieren könnte. Aber wie ist es heute? Ist heute nicht eigentlich alles in Ordnung? Was wäre, wenn ich nicht so weit in die Zukunft ginge mit meinen Gedanken?

Und damit ist nicht gemeint, dass ich keine Pläne machen soll. Es geht darum, mit welcher inneren Haltung ich an die Planung herangehe. Ich kann dies entspannt und aus einer inneren Freiheit und Klarheit heraus tun oder aber die ganze Zeit Panik und Sorge haben, ob alles gut geht.

Im ersten Fall plane ich und bin frei, im zweiten Fall werde ich – wie eine Flipperkugel – von einer Sorgenschleife in die nächste geworfen.

Gedanken kommen und gehen, ohne dass ich darüber Kontrolle habe. Wenn ich ihnen Aufmerksamkeit schenke und ihnen glaube, können sie wachsen und gedeihen. Diese Energie kommt also nicht von außen, sondern aus meinem Inneren. Auch die Sprache gibt uns darauf einen Hinweis: „Ich mache mir Sorgen.“ Niemand anders außer mir selber produziert also meine Ängste und Sorgen, indem ich sie mit Aufmerksamkeit und Glaube füttere.

Ich kann nie genau wissen, warum ein Gedanke auftaucht und warum sich meine Aufmerksamkeit so brennend für ihn interessiert. Es können Erfahrungen sein, Erlebnisse aus der Vergangenheit oder Konditionierungen aus der Kindheit. Es können auch Angewohnheiten meiner Vorfahren sein, die ich übernehme. Der Umgang mit bestimmten Gedanken wird zur Gewohnheit. So bin ich nun mal eben.

Oder ist es wirklich möglich, Kontrolle über meine Aufmerksamkeit zu bekommen? Kann ich lernen, meine Gedanken zu lenken? Ja, diesen Weg will ich gehen. Ich will nicht weiterhin Sklavin meiner eigenen Gedanken sein. Ich will mir nicht mehr so viele Sorgen machen und ständig Angst haben.

Unser Gehirn kann nicht unterscheiden zwischen dem, was tatsächlich geschieht, und dem, was wir uns nur vorstellen. Ob bei einer realen Gefahr oder nur der Vorstellung von Gefahr: Unser gesamtes Alarm-System wird hochgefahren und wir bereiten uns darauf vor, zu kämpfen oder zu fliehen. Ist die Gefahr vorüber, braucht unser Körper Stunden, um wieder in den Entspannungsmodus zu kommen.

Erzeuge ich in der Zwischenzeit mit meinen Gedanken neue Sorgen und Ängste, badet mein Körper permanent im Alarm-Cocktail und kann nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich bin verspannt, gestresst, schlafe schlecht, meine Verdauung leidet und ich lache zu wenig. Ich leide und ich belaste die Menschen um mich herum. Ich will hier raus – ich will raus aus meinem Kontrollraum.

Das Zauberwort heißt: Hingabe. Das Leben lebt mich bereits – ohne mein Zutun. Ich erkenne und akzeptiere, dass ich nicht sehr viel kontrollieren kann. Also kann ich mich auch genauso gut ins Hier und Jetzt hinein entspannen. Klingt einfach, ist es aber nicht. Zum Glück bin ich gut – sogar sehr gut. Ich lerne das – Schritt für Schritt – in meinem Tempo.

„Wenn ich mich mit jemandem vergleiche, dann nur mit mir selbst.“

Was passiert, wenn ich mir Sorgen mache? Ich schaue mir diesen Ablauf jetzt genauer an:

  1. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl.
  2. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf dieses Gefühl. Mein Kopf analysiert, ob Gefahr droht.
  3. Die Analyse hat ergeben: Es droht Gefahr. Ich glaube meinen Gedanken.
  4. Mein Alarmsystem wird aktiviert und mein Körper geht in Bereitschaft.
  5. Ab jetzt kann ich die Welt nur noch aus dieser drohenden Gefahr heraus wahrnehmen. Ich bin gestresst, mache mir Sorgen, habe Angst oder verfalle in Panik.

Beispiel:
Maria sitzt zu Hause und arbeitet an einem Bericht. Ihre 10-jährige Tochter ist mit ihren Freundinnen auf dem Fahrrad in der Nachbarschaft unterwegs. Plötzlich beschleicht Maria ein ungutes Gefühl: „Meiner Tochter könnte etwas zustoßen!“ Ihr Kopf erzeugt Bilder mit Unfallszenen. In der Gegend, wo die Kinder unterwegs sind, gibt es mehrere gefährliche Kreuzungen. Bei einer ist sogar schon mal ein Unfall passiert.

Sie glaubt jetzt fest, dass ihre Tochter in Gefahr ist. Sie wird unruhig, nervös, schaut permanent aus dem Fenster, sie schwitzt und überlegt, ob sie sie suchen soll. Ihre Tochter ist währenddessen vollkommen frei von irgendwelchen Vorstellungen über die Zukunft. Sie kann unbeschwert das Hier und Jetzt mit ihren Freundinnen genießen und kommt wie vereinbart um 18:00 Uhr unbeschadet und fröhlich nach Hause.

Ich lerne jetzt die Fähigkeit, meine Gedanken zu lenken, damit ich mich nicht mehr selbst in den Kontrollraum einsperre. Was ich dazu brauche, ist: Achtsamkeit.

In vier Schritten zu mehr Achtsamkeit:

  1. Ich komme ins Hier und Jetzt.
  2. Ich nehme liebevoll wahr, was gerade in mir passiert.
  3. Ich akzeptiere, was ich nicht ändern kann und ändere, was zu ändern ist.
  4. Ich gehe in eine neue Richtung.

Ich komme ins Hier und Jetzt

Ich atme tief ein und wieder aus. Ich folge der Luft in meine Lunge und wieder hinaus. Ich spüre, wie mich mein Atem belebt. Ich spanne meinen Beckenboden an (als würde ich den Harnfluss stoppen) und lasse wieder los. Ich entspanne meine Schultern und stelle mir vor, dass meine Arme wie zwei dicke Schnüre von meinen Schultern hängen.

Ich entspanne mein Gesicht, gähne und löse die Spannung auf meiner Stirn. Ich sage mir, wer oder was ich gerade bin. Ich bin eine Frau auf einem Stuhl, die atmet. Was ist hier und jetzt nicht in Ordnung? Was kann ich hier und jetzt an meiner Situation verbessern?

Ich beobachte, welche Gedanken mein Kopf erzeugt und welchen ich meine Aufmerksamkeit schenke. Ich bemerke, wie ich mit meinen Gedanken in die Zukunft wandere und beginne, mir Sorgen zu machen. Aber was ist hier und jetzt nicht in Ordnung? Was kann ich heute tun? Ich lasse den Gedanken wieder los. Ich brauche ihn gerade nicht. Ich kann gerade nichts tun. Ich bin nur eine Frau, die auf einem Stuhl sitzt und atmet. Ich lerne zu meditieren.

Angst und Sorgen entstehen immer dann, wenn ich meinen Gedanken erlaube, in die Zukunft zu wandern. Dabei ist nur das Hier und Jetzt real. Alles andere ist eine Illusion in meinem Kopf. Dies ist gerade der wichtigste Augenblick in meinem Leben. Ich habe keinen anderen. Es ist der einzige Moment, der wirklich ist. Ich bin angekommen. Ich bin zu Hause.

Zu Hause ist kein Ort. Es ist ein Zustand, der sich einstellt, wenn ich aus meiner Gedankenwelt ins Hier und Jetzt zurückkehre und die Wirklichkeit erlebe. Ich folge meinen Sinneswahrnehmungen. Was höre ich? Was rieche ich? Was berührt meine Haut? Was sehe ich? Was schmecke ich? Ich habe den Kontrollraum verlassen. Ich gebe mich dem Leben hin. Es lebt mich bereits. Ich atme. Mein Herz pumpt unermüdlich Blut durch meine Adern. Ich muss gar nichts. Ich vertraue dem Leben.

Ich integriere diesen Prozess in meinen Tagesablauf. Ich platziere Zettel in meiner Umgebung, auf denen steht: „Hier und Jetzt“.

Es wird zur laufenden Routine und es gelingt mir immer schneller, aus der Zukunft zurückzukommen. Immer seltener werden die Eintragungen in mein TDE, in denen es um Ängste und Sorgen geht. Ich habe Geduld. Ich lerne Schritt für Schritt und nicht über Nacht. Ich vertraue darauf, dass ich es lerne, auch wenn meine Gedanken scheinbar willkürlich herumspringen. Ich habe genügend Zeit zu üben. Ich mache das richtig gut. Ich kann mich auf mich verlassen. Ich bleibe bei mir. Auf mich habe ich gewartet.

Ich nehme liebevoll wahr, was gerade passiert

Oft fällt es mir sehr schwer, überhaupt zu merken, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich habe es mir so gemütlich in meinem Kontrollraum eingerichtet, dass ich mich dort richtig zu Hause fühle. Ich habe täglich so viele Aufgaben zu erledigen und muss mich um so viele Dinge kümmern, dass ich ständig unter Strom bin. Ich muss alles überwachen und organisieren. Ich muss funktionieren wie ein Uhrwerk.

Ich bin es so gewohnt. Ich brauche diesen Druck, diesen Stress. Er treibt mich an. Manchmal wache ich in der Nacht auf und mache mir Sorgen oder habe Angst, dass ich etwas übersehen habe, dass ich einen Fehler mache oder dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Aber muss das wirklich so sein? Muss ich in meinem Gedankenkarussell aus Überforderung, Druck, Stress, Sorgen und Angst wirklich dauernd im Kreis mitfahren?

Mein Körper gibt mir eindeutige Signale. Ich bin verspannt. Mein Nacken schmerzt. Mein Rücken tut weh. Ich habe Kopfschmerzen. Ich schlafe schlecht. Ich habe öfters Bauchweh oder mir ist schlecht. Ich lerne, diese Signale wahrzunehmen als das, was sie sind. Mein Körper möchte mir sagen, dass er sich eine bessere Behandlung wünscht.

Wenn ich in mein TDE schreibe, dass ich heute wieder einen total stressigen Tag hatte und ich spüre, wie mein Kopf pocht und mein Nacken sich verspannt hat, dann mache ich die Augen zu und atme tief in meinen Bauch. Ich nehme wahr, was ich in meinem Körper spüre. Ich verurteile mich aber nicht. Ich schimpfe nicht mit mir und kritisiere mich nicht, dass ich mich wieder so durch den Tag habe hetzen lassen.

Ich bin liebevoll mit mir. Ich bin auf meinem Weg. Ich habe schon gelernt, dass ich meinen Körper wahrnehme. Ich merke, wo es wehtut. Ich lenke meine Aufmerksamkeit dahin und ich komme ins Hier und Jetzt. Was muss ich jetzt noch tun? Kann ich jetzt loslassen? Kann ich für einen Moment aus dem Karussell aussteigen?

Allein durch das Wahrnehmen meiner Gedanken und Schmerzen beginnt sich etwas aufzulösen. Mein Körper ist dankbar, dass ich ihn wahrnehme und seine Signale ernst nehme. Ich habe Geduld mit mir. Es braucht Zeit, mein Verhalten, das ich so gut einstudiert habe, zu verändern. Der Schlüssel dazu, diesen Veränderungsprozess in Gang zu bringen und in Gang zu halten, ist der liebevolle Umgang mit mir selbst.

Sobald ich mich für die Veränderung wieder antreibe und Höchstleitungen von mir verlange und erwarte, dass diese Veränderungen viel schneller vonstattengehen müssen, steige ich wieder ins Karussell und drehe mich im Kreis. Ich kann keinen meiner Schritte überspringen.

Wenn ich ärztlichen Rat einhole, folgt auf die Diagnose die Medizin. Das Geniale bei meinem Achtsamkeitsprozess ist, dass die Diagnose bereits die Medizin ist. Nur allein dadurch, dass ich meine Aufmerksamkeit auf meine Gedanken richte, mir überlege, was ich glauben will und was nicht, meinen Körper spüre, atme und mir bewusst werde, was ich kontrollieren kann und vor allem, was ich alles nicht kontrollieren kann, beginnt bereits die Veränderung.

Ich kann mich immer öfter in den Moment hinein entspannen. Ich gewinne etwas Abstand zu meinem Gedankenkarussell. Es ist fast so, als könnte mein wahres Ich aus einer gewissen Distanz heraus meine Gedanken beobachten. So als wären es zwei verschiedene Ebenen und ich bin eigentlich gar nicht die Gedanken, die ich mir mache.

Wenn ich mir Gedanken mache, dann nehme ich sie liebevoll wahr. „Hey, ich mache mir große Sorgen um meine Tochter. Ich liebe sie und will nicht, dass ihr etwas zustößt. Es ist vollkommen in Ordnung, dass ich mir diese Gedanken mache. Ich bin eine gute und fürsorgliche Mutter.“

Ich lasse aber nicht zu, dass mich die Angst in ihren Würgegriff nimmt. Wie kann ich meine Tochter jetzt beschützen? Sie ist mit ihren Freundinnen auf dem Fahrrad unterwegs. Ich weiß, dass sie gut aufpasst und vorsichtig fährt. Ich freue mich für meine Tochter darüber, was sie heute wieder erlebt und lernt. Ich entspanne mich in diesen Moment hinein und gebe mich dem Leben hin. Ich vertraue meiner Tochter.

Ich akzeptiere, was ich nicht ändern kann, und ändere, was zu ändern ist

Oft wünsche ich mir, dass etwas anders ist, als es ist. Ich möchte besseres Wetter, weil ich einen Ausflug geplant habe. Ich möchte, dass noch mehr Menschen zu meiner Veranstaltung kommen. Ich möchte, dass sich weniger Reisende diese Sehenswürdigkeit anschauen, bei der ich auch gerade bin.

Ich möchte, dass meine neue Firma mehr Aufträge bekommt. Ich verstehe nicht, warum ich nicht mehr Anrufe aus meinem Freundeskreis bekomme. Ich möchte, dass mein Partner sich anders verhält oder sogar anders aussieht.

Ich akzeptiere also die Realität nicht so, wie sie ist. Das kostet enorm viel Energie. Ich werde diesen inneren Kampf nicht gewinnen können.

Ich stelle mir jetzt mal vor, ich wäre blind und befinde mich in einem Raum, den ich nicht kenne. Ich taste mich vor. Dabei remple ich einen Stuhl an. Ich weiche ihm aus und gehe weiter. Ich gelange zu einer Wand. Vor mir geht es nicht weiter. Also taste ich mich der Wand entlang, bis ich schließlich die Türe finde, um diesen Raum zu verlassen.

Dieses Vorgehen kommt mir völlig plausibel vor. Würde man mir die Augen verbinden, würde ich genauso handeln. Ich würde mich nicht ärgern, wenn ich gegen einen Stuhl laufe oder gegen die Wand. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie da sind.

Trotzdem stehe ich täglich vor einer Wand und hämmere dagegen. Ich will, dass sie endlich verschwindet und mir den Weg freigibt. Die Menschen sollen endlich von dieser Aussichtsplattform verschwinden, damit ich in Ruhe den Ausblick genießen kann. Meine Tochter soll endlich nach Hause kommen, damit ich mir keine Sorgen mehr machen muss. Ich kämpfe einen aussichtslosen Kampf.

Wie wäre es, wenn ich lerne, die Perspektive zu verändern? Nicht das, was mir widerfährt, ist das Problem, sondern das, was ich darüber denke. Nicht die Dinge an sich sind schlimm, nur meine Gedanken über sie. Natürlich würde es mir besser gefallen, die Aussicht auf dieser Plattform in Ruhe zu genießen – ohne Kindergeschrei, hektische Reisegruppen und Gedränge um das beste Foto.

Wenn ich das aber gerade nicht ändern kann, weil ich zum Beispiel nicht zu einem andern Zeitpunkt noch mal wiederkommen kann, atme ich tief durch, nehme die Realität so an, wie sie ist, ohne sie als schlecht zu bewerten. Sie ist, wie sie ist. Ich entspanne mich in den Moment und erlebe das, was ich dort gerade erleben kann. Ich gebe mich der Situation hin und mache das Beste daraus.

Ich habe außerdem weiterhin Wahlmöglichkeiten. Ich muss nicht so lange bleiben und kann mir wieder einen ruhigeren Ort suchen. Ich kann mich auch entscheiden, diese Sehenswürdigkeit auszulassen. Dabei muss ich mir jedoch bewusst sein, dass ich eventuell meine Begleitpersonen in Bedrängnis bringe. Diese nehmen die Situation vielleicht nicht als unangenehm wahr. Sie wollen jetzt da rein. Lässt sich das ohne Weiteres organisieren, wenn ich nicht mitgehe?

Ein „Nein“ zu dir ist ein „Ja“ zu mir, aber was passiert dann mit dem „Wir“? Bin ich selbst wirklich bereit, auf dieses Erlebnis zu verzichten? Oder wünsche ich mir insgeheim, ich könnte mehr annehmen was ist und den inneren Kampf aufgeben?

Ich kann das üben. Das Leben bietet mir immer wieder die Chance zu trainieren. In meinem TDE kann ich diese Erfahrungen beschreiben und in einem geschützten Rahmen – in meinem Kopf – mir ausdenken, wie es hätte anders sein können.

Was wäre passiert, wenn ich meine Ablehnung, meine Kritik und meinen Unmut für einen Moment zur Seite gelegt hätte? Was wäre, wenn ich mit den anderen in das Kettenkarussell eingestiegen wäre, auf meinem kleinen Stuhl durch die Luft geflogen wäre und die Kontrolle für ein paar Minuten völlig abgegeben hätte?

Und wenn ich zu dem Schluss komme, dass mir das noch zu viel Angst macht oder ich mich einfach sehr unwohl bei dem Gedanken fühle, dann ist das auch vollkommen in Ordnung. Dann nehme ich meine Entscheidung liebevoll an und akzeptiere, dass ich etwas nicht möchte oder vielleicht noch nicht möchte. Und allein dadurch, dass ich mir dessen bewusst werde, habe ich bereits wieder eine Veränderung in Gang gesetzt.

Beim nächsten Mal bin ich nicht mehr nur Passagier in meinem Gedankenkarussell. Ich nehme wahr, dass meine Gedanken versuchen, sich gegen die Realität zu wehren. Ich stelle mir die Frage, ob ich etwas verändern kann, oder ob die einzige Möglichkeit, diesen Moment zu erleben, die ist, mich in die Situation hinein zu entspannen und sie so anzunehmen, wie sie ist.

Und wenn mir das nicht oder noch nicht gelingen will, dann nehme ich auch das liebevoll an. Ich akzeptiere, dass ich noch nicht akzeptieren kann. Und das ist vollkommen okay. Ich bin auf meinem Weg. Ich vergleiche mich mit niemandem. Niemand anders kann mein Leben für mich leben. Ich bleibe bei mir. Ich bin mütterlich gut zu mir selbst. Ich mache das richtig gut und ich habe für alles genügend Zeit.

Ich suche mir hier meinen Lieblingssatz aus und schreibe ihn auf kleine Zettel, die ich an Orte platziere, an denen ich immer wieder bin:

  • Ich sage Ja zu dem, was ist.
  • Ich erlaube der Realität, so zu sein, wie sie ist.
  • Ich gebe mich dem Leben hin.
  • Ich entspanne mich in den Moment hinein.
  • Ich nehme die Situation so an, wie sie ist.
  • Ich öffne mich dem Hier und Jetzt.
  • Ich lasse meine Vorstellungen los.
  • Ich vergebe meinem Gegenüber, dem Augenblick und mir selbst.
  • Ich schließe Frieden mit mir, dem Augenblick und meinen Mitmenschen.
  • Ich verändere meinen Aggregatzustand von fest zu flüssig oder gasförmig.

Ich gehe in eine neue Richtung

Wenn ich es also schaffe, mich von meinen Gedanken zu distanzieren, wenn ich meine Gedanken als das erkenne, was sie sind, nämlich ein Produkt meiner Fantasie, und ich komme zur Ruhe, weil ich die problematischen Gedanken loslasse und ihnen keinen Glauben mehr schenke, kann ich mich jetzt fragen, was ich eigentlich will. Was ist meine Wirklichkeit?

Das funktioniert aber erst, wenn ich wirklich frei bin von meinen Ängsten und Sorgen, von Ärger und Wut, von Bedürftigkeit und Gier. Dann habe ich wieder Zugang zu mir und spüre intuitiv, wohin ich mich ausrichten will.

Diese neue Ausrichtung trainiere ich jetzt im Alltag. Wenn ich zum Beispiel den Gedanken loslasse, dass mich eine größere Ansammlung von Menschen stresst, kann ich jetzt mit der Masse mitschwimmen. Ich kann mich dem Moment hingeben, ohne dass mein Alarmsystem aktiviert wird.

Ja, hier sind sehr viele Menschen. Viele von ihnen sind wahrscheinlich auch angespannt. Aber es gibt keinen Grund. Alle wollen nur von A nach B. Ich kann vielleicht mit jemandem in Kontakt treten. Ich kann ihm den Vortritt lassen und ihn anlächeln oder ich kann nach dem Weg fragen oder mich versichern, dass ich im richtigen Bus sitze.

Dabei werde ich feststellen, dass ich es mit einem Menschen zu tun habe. Ein Mensch wie ich, der sich wahrscheinlich ebenfalls freuen wird, aus dieser anonymen Masse herauszusteigen. Wir sind dann wie zwei Farbpunkte in einer grauen Masse und unsere Farben übertragen sich auf unsere Umgebung.

Ich kann auch die Gedanken loslassen, dass immer alles zu wenig ist. Wie ungerecht es ist, dass die anderen immer mehr bekommen. „Ich werde immer übersehen. Ich bekomme nicht, was mir zusteht und werde nicht ernst genommen.“ Wenn ich mich befreie aus meinem gewohnten Mangeldenken, sehe ich plötzlich die Fülle und Vielfalt, die mich umgibt.

Ich habe Luft im Überfluss zum Atmen. Die Sonne spendet im Überfluss Licht und Wärme. Die Natur gedeiht überall dort, wo wir es zulassen, in ihrer üppigen Pracht. Überall ist Fülle. Was ist hier und jetzt nicht in Ordnung? Ich bin genug. Ich umarme mein inneres Kind und nehme es auf Schritt und Tritt in Schutz. Auf mich habe ich gewartet. Ich bleibe bei mir. Meine Meinung ist wichtig, einfach nur darum, weil es meine ist.

Kaffee oder Tee? Was fühlt sich gut an? Und nicht: Was denkt sich gut an? Wann immer ich eine Entscheidung treffe, vertraue ich auf mein Gefühl und nicht auf meinen Verstand. Der kann die Fakten prüfen, aber mein Herz und mein Bauch folgen einer höheren Intelligenz. Überall in meinem Leben sind Fülle, Freude, Klarheit, Dankbarkeit und Stille. Ich gebe meinem Leben eine Chance, dass es mich genießen kann.

Ich erinnere mich an Maria und ihre Tochter auf dem Fahrrad. Wenn Maria nicht lernt, ihre Aufmerksamkeit zu steuern, überträgt sie ihre Angst auf ihre Tochter. Die Kleine spürt schon beim Weggehen die Unruhe ihrer Mutter. Sie lernt, dass man sich Sorgen machen muss, wenn seine Liebsten das Haus verlassen.

Wenn sie dann zurückkommt, sagt ihr die Mutter, wie froh sie ist, dass sie wieder gesund zu Hause ist und dass sie sich Sorgen gemacht hat. Die Tochter möchte ihrer Mutter keine Sorgen machen. Das nächste Mal, wenn die Freundinnen mit den Fahrrädern vorbeikommen, schlägt die Tochter ihnen vielleicht vor, lieber im Garten zu spielen. Aber die Freundinnen wollen lieber Fahrradfahren und sie bleibt allein zu Hause, um ihre Mutter nicht zu beängstigen.

Vielleicht wird sie sich in Zukunft und auch im Erwachsenenalter bei allem, was sie vorhat, fragen, ob sich jemand Sorgen machen könnte und ob sie auf das geplante Erlebnis lieber verzichten soll.

Ich schreibe in mein TDE, dass ich jemandem gesagt und gezeigt habe, wie viel Sorgen ich mir um ihn mache. Ich denke mir vielleicht, dass es doch etwas Gutes ist. Ich drücke doch damit auch aus, dass mir jemand wichtig ist. Das ist richtig. Gleichzeitig übe ich damit aber auch Druck aus und versuche zu kontrollieren und den anderen dazu zu bringen, in meinen Augen gefährliche Dinge weniger oder nicht mehr zu tun.

Wie wäre es, wenn ich meine Bedürfnisse mit denen meiner Tochter zusammenbringe? Ich kann ihr zeigen, dass ich mich für sie freue, dass sie dieses Abenteuer erlebt und ich wünsche ihr, dass sie es in vollen Zügen genießt.

Wenn sie dann wieder zurückkommt, kann ich sie herzlich begrüßen und ihr signalisieren, dass ich mich sehr freue, sie heil wiederzusehen. Und da ich gelernt habe, meine Aufmerksamkeit zu lenken und meine Ängste und Sorgen nicht zu nähren, kann ich sie auch spüren lassen, dass mich ihre Abenteuer nicht belasten.

Mein Gedankenkarussell wird, ohne dass ich es vielleicht merke, ganz stark von außen befeuert. Bildschirme, Radio und Bücher füttern mich permanent mit Informationen. Was nehme ich da zu mir? Welchen Medien gestatte ich es, mich zu nähren? Welche Nachrichten und Informationen sind für mich wirklich wichtig und gehaltvoll? Was tut mir gut und macht mir Mut?

„Sage mir, was dich wachhält und ich sage dir, wer du bist.“

Ich werfe einen sehr kritischen Blick auf meinen Medienkonsum und beginne ganz bewusst, Dinge wegzulassen. Ich halte mich fern von Sensationsnachrichten. Ich bin mir darüber im Klaren, wie die Suchalgorithmen im Internet funktionieren. Sie servieren mir immer mehr von dem, was ich konsumiere und nachfrage. Ich schaffe mir meine eigene Blase.

Aus ihr kann ich mich nur befreien, indem ich sie abschalte. Ich kontaktiere wieder mal einen Freund oder eine Freundin, um über Gott und die Welt zu reden. Ich gehe in die Natur. Ich frage mich ganz bewusst: „Wem oder was möchte ich meine Aufmerksamkeit und meinen Glauben schenken?“ Ich bleibe bei mir. Auf mich habe ich gewartet. Ich bin richtig.

Im nächsten Kapitel, „02 Mein Licht“, widme ich mich meinem Mut. „Was ich mich nicht traue, erlebe ich nicht.“ Wofür schäme ich mich? Was hindert mich daran, in den Ring zu steigen und mich zu zeigen? Ich mache das richtig gut. Die anderen haben ein Recht, mich zu sehen.